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Harald Birgfeld, Webseite seit 1987/ Website since 1987

 

Bestseller: Zeit, was ist das“, ausschnittsweise veröffentlicht in

#kkl, online-Magazin, Initiative für Kunst, Kultur und Literatur,

2023 „Leitsterne und Irrlichter“, 2023 „Klarheit“ und 2024 „Präsenz“.

 

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Inhaltsverzeichnis

 

Die Insassinnen

 

GESCHICHTE EINES AUSSENLAGERS, KZ SASEL *)

 

Theaterstück

 

*) In Anlehnung an: „Geschichte eines Außenlagers, KZ-Sasel“,

Freie und Hansestadt Hamburg, 1982

 

 

 

Bild 2

 

 

 

 

Harald Birgfeld

 

Copyright 2019 beim Autor, Harald Birgfeld. Alle Rechte vorbehalten.

Harald Birgfeld, geb. in Rostock, lebt seit 2001 in 79423 Heitersheim. Von Hause aus Dipl.-Ingenieur, befasst er sich seit 1980 mit Lyrik.

In mindestens 23 Anthologien ist er vertreten.

 

Harald Birgfeld schrieb seine Gedichte sowie dieses Theaterstück überwiegend während der Fahrten in der Hamburger S-Bahn zur und von der Arbeit.

Im vorliegenden Theaterstück wird in Anlehnung an

„Geschichte eines Außenlagers KZ Sasel“

der Freien und Hansestadt Hamburg, der Behörde für Schule, 1982, versucht nachzuerzählen, was sich im KZ Sasel in den letzten Kriegsjahren ereignet hatte. Es ist wichtig, der Jugend immer wieder davon zu berichten. Die Form eines bereits erschienen Epos sowie dieses Theaterstück scheinen dem Autor dafür dauerhafte Möglichkeiten zu sein.

 

Aus dem Gutachten, 1986, einer an der Universität Freiburg tätigen Literaturwissenschaftlerin:

"Es lohnt sich, einmal einen heutigen Dichter kennen zu lernen, der mit der deutschen Sprache einen faszinierend fremden Weg betritt und trotzdem dem Leser Freiraum lässt für eigene Gedankengänge, ohne dass die Probleme in erhobener Zeigefingermanier zu zeitkritischen Trampelpfaden werden."

 

Herausgeber, Autor, Redakteur: Harald Birgfeld.

e-mail: Harald.Birgfeld@t-online.de

Im Internet unter : www.Harald-Birgfeld.de

 

Buchumschlag: Harald Birgfeld

 

In dem Stück kommen vor:

 

 

1. Jugendliche, Mädchen (1.Jug.)

2. Jugendlicher, Junge (2.Jug.)

3. Jugendlicher, Junge (3.Jug.)

 

1. Insassin, (1.Ins.)

2. Insassin, (2.Ins.)

3. Insassin, (3.Ins.)

4. Insassin, (4.Ins.)

 

1. Stein

2. Stein

 

1. Verkäuferin (1.Verk.)

2. Verkäuferin (2.Verk.)

 

1.Häftling

2.Häftling

 

Bewacher (Bew’er.)

Bewacherin (Bew’in.)

 

Schwarzhemd, (Schw.)

 

 

Frau B.

Schwester Frau B. (Schw. Frau B.)

Frau D.

Frau D.

Frau E. (1)

Frau E. (2)

Frau F.

Frau H.

Frau I.

Frau K.

Frau P.

Frau R.

Frau U.

Frau Y.

Frau Z.

 

Dr. Y.

Dr. Z. jr.

Dr. Z. sen.

 

Probst H.P. (Pr.)

 

Drei Frauen:

1.Frau, (1.Fr.)

2.Frau, (2.Fr.)

3.Frau, (3.Fr.)

 

 

Herr B.

Herr F.

Herr K.

Herr N.

Herr P.

Herr X.

Herr Y.

 

 

Junge, (Ju.)

Karrenschieber

Kleines Mädchen (Mäd.)

Kusine (Kus)

Lautsprecher, (Laut.)

Lena G.

Maria,

Sulejka

 

Offizier

 

Pol. (Polizist)

 

 

 

Und einige andere.

 

 

Die Bilder in der Reihenfolger

 

1. Akt

 

1. Bild

Urgespräche

2. Bild

Totenkammern

3. Bild

Gebot der Steine

4. Bild

Spottdrossel

5. Bild

Ein Interview

6. Bild

Der Kassenwart

 

 

 

2. Akt

 

1. Bild

Verkehrte Welt

2. Bild

Sulejkas Tod

3. Bild

Singsang

4. Bild

Wen klagt ihr an

5. Bild

Unsre eigenen Probleme

6. Bild

Lena G.:

„Frauen müssen Frauen helfen“

 

 

 

3. Akt

 

1. Bild

Im Gnadenfutter

2. Bild

Wir wollen einmal unsre Ruhe haben

3. Bild

Schiff der Hoffnung?

4. Bild

Ein langer Schlaf

5. Bild

Die Obrigkeit hat gratuliert

 

 

 

 

1. Akt 1. Bild. Urgespräche

 

Auf der linken Seite der Bühne befinden sich Jugendliche,

auf der rechten Seite ältere Erwachsene mit Briefen und Zetteln in der Hand.

Zwischen den Gruppen befindet sich ein Zaun der reicht bis an die Decke.

Man könnte ihn allerdings seitlich umgehen.

1.Jug., ein Mädchen,

2.Jug., ein Junge.

Die Jugendlichen versuchen ein Gespräch mit den Erwachsenen.

 

1.Jug.:     Frag doch die.

Die sind doch alle aus der Zeit.

2.Jug.:     Die würden uns auch grad was sagen,

                                  Das hat keinen Sinn.

                    Da kannst du gleich mit Steinen sprechen wollen.

                                  Denen hält doch das Gewissen

                                  Beide Hände auf den Mund.

1.Jug.:     Die soll‘n sich nur erinnern,

                                  Soll‘n uns sagen wie es damals war,

                                  An was sie sich erinnern können.

                                  Hab‘n doch hier gelebt, im Alstertal in Sasel.

                                  Gehen immer noch durch ganz genau

                                  Dieselben Straßen.

                                  Soll‘n sich nur erinnern.

Herr X.:    Unsre Jugend hat ein Recht darauf

                                  Von uns zu hören, wie es damals war.

                                  Ich möchte endlich einmal drüber reden können.

                                  Niemand spricht davon.

                                  Die reden alle immer nur drum rum.

                      Ich will euch sagen, was ich weiß

                                  Und wie es war.

                                  Die Schwarzhemdtyrannei war schlimm

                                  Als sie in Blüte stand.

2.Jug.:     Das ist schon wieder so‘n Gewäsch.

                    Das woll‘n wir gar nicht wissen.

                    Keiner will das wissen.

                    Was wir wissen wollen, ist

                    Wie es in Sasel war nur hier, an dieser Stelle.

                    Was Sie davon wissen,

        Was in diesem Nest geschah.

        Genau. Was hier geschehen ist.

                    Wir können es uns nicht erklären,

                    Sagen Sie uns, was Sie davon wissen.

                    Alles andre schlagen wir in Büchern nach.

Frau U.:    Es ist doch immer gleich.

Nun will man mal erzählen, und was ist?

Die hör‘n noch nicht mal zu

Ich bin Frau U.

Ich könnte euch sehr viel erzählen.

          Hier in Sasel war die Welt noch nicht zu Ende.

Jeder denkt, die großen Schrecken

Waren nur an großen Plätzen.

Nein, sie kamen bis zu uns.

Sie krochen in die letzten Ritzen

                      Und versteckten sich in jedem Winkel.

Denkt nur an die Bombennächte überall.

Ich geb‘ es zu:

Wir hatten unsren eig‘nen Schrecken, hier im Dorf,

An unsrer Seite.

Ja wir wohnten Tür an Tür mit ihm.

Der Schrecken wohnte unter uns,

Er ging in unsrem Dorf spazieren.

Leider haben wir sehr oft nicht hingesehen.

Frauen waren es, sehr viele Frauen,

Bis zu fünf Mal hundert Frauen,

Die den Schrecken so spazieren tragen mussten,

Davon wollt ihr hören, ja?

Den Frauen ging es schlecht, sehr schlecht.

Ihr wollt ja alles wissen,

Fragt und fragt und fragt.

Die Frauen damals hatten auch gefragt.

Naja, das klärt heut‘ niemand auf.

Die standen dauernd unter Wache.

„Schwarze Hemden“ standen überall herum.

 

Ein Schwarzhemd kommt herein, ein völlig schwarz gekleideter Mann (Schw.).

Er hat ein Rutenbündel im Arm. Daraus schimmert eine blanke Axt.

Er geht auf Frau U. zu.

 

Frau U.:    Ich war so jung wie ihr.

 

Frau U. nimmt ihr Kopftuch ab. Sie ist jetzt ein junges Mädchen.

 

Frau U.:    Das Reich der tausend Jahre ging zu Ende.

Damals war es niemandem genau bewusst.

Ich war Studentin.

Schw.:      Du bist doch das Fräulein U.?

                    Studentin?

Frau U.:    Ja, das stimmt.

Schw.:      Naja, damit ist erst mal Schluss.

Jetzt müssen alle helfen,

Auch die Frauen und die jungen Mädchen.

Studium wird hintenan gestellt.

Ist eine Art von Kriegseinsatz.

Du brauchst dafür nicht in den Krieg,

Verstehst du mich? Sei froh.

Du kannst noch wählen.

Frau U.:    Ich soll wählen? Was denn.

Schw.:      Zwischen Kettenwerk der Munitionsfabrik

In Ochsenzoll, naja, und Schaffnerin

Auf einer Straßenbahn.

Frau U.:    Als Schaffnerin auf einer Straßenbahn?

Die hat doch keinen Bunker.

Soll ich meine Angst spazieren fahren? Hin und her?

Das mach ich nicht. Nein.

Sagen Sie, die anderen,

Was machen denn die anderen?

Schw.:      Die geh‘n in die Fabrik.

Die meisten jedenfalls.

Du brauchst auch keine Angst zu haben.

 

Er lacht.

 

Schw.:      Eher ist es umgekehrt.

Die in der Munitionsfabrik, die haben Angst vor euch.

Frau U.:    Vor uns? Warum.

Schw.:      Weil ihr von gar nichts eine Ahnung habt.

Ihr müsst ganz schnell vergessen,

Was ihr wisst. Das braucht dort keiner.

Was ihr wissen müsst, bring‘n die euch bei.

Frau U.:    Was soll‘n wir da denn naschen?

Schw.:      Produzieren! Produzieren!

Hülsen für Granaten.

Ihr lernt schnell. Drei Wochen höchstens.

Dann seid ihr dort Meister.

Frau U.:    Hülsen für Granaten? Lieber Gott!

 

Das Schwarzhemd geht fort. Frau U. bindet das Kopftuch wieder um.

 

Frau U.:    Wir Mädchen damals waren „ordentlich“.

Heut ist das völlig anders.

Wir versteckten unsre Reize „ordentlich“.

Als der mich angesprochen hatte, dachte ich,

Dass sich die Winzigpunkte schwarzer Hemden,

Die einst ineinander liefen,

Nun im Raster wieder aufzulösen schienen.

Nein, ich hatte nicht damit gerechnet,

Doch noch in die Munitionsfabrik zu müssen.

Dann sagt der auch noch, ich könnte wählen.

Ja, ich hatte längst gewählt.

Verliebt war ich. In jemanden verliebt.

Das war sofort vorbei.

Das hätt‘ ich dem nie sagen dürfen.

Wenn ich schon verlobt gewesen wäre, wenigstens verlobt.

                     Das wär vielleicht ein Unterschied gewesen.

Das wär‘ jedenfalls wie die es sagten

„Ordentlich“ gewesen.

Das versteht ihr heute nicht.

Ist besser so. Ist sicher besser so.

Ihr wurdet nie getötet, nie beraubt,

Beplündert mit Gesetz und Ordnung.

Alles, was ich weiß will ich erzählen.

Viel wird man noch schreiben und erzählen müssen,

Bis man‘s irgendwann vielleicht versteht,

         Erkennt und das Erkennen lernt,

                     Wenn es noch nicht zu spät ist.

Damals dachte ich die Angelegenheit beträfe

Mich persönlich, ganz persönlich.

Heute weiß ich auch,

Dass es natürlich nicht nur mich betraf.

2.Jug.:     Sie haben recht.

Wir leben hier in Watte.

Seh‘n Sie uns doch an.

Wir leben in Ansorge, völlig ohne Sorgen.

Unser Garten ist ein Paradies.

Das heißt, es könnte eines sein,

Wenn wir nicht wüssten, was hier vorher war.

1.Jug.:     Es geht um uns.

Um junge Menschen.

Es macht allen von uns Sorge,

Dass wir ohne Sorgen sind.

Verstehen Sie? Wir möchten uns vermissen können.

Doch wie sollen wir,

Wenn wir uns niemals umeinander sorgen können.

2.Jug.:     Unser Heim liegt mitten

In der grünen Landschaft,

Aber die ist gar nicht grün für uns.

Wie soll‘n wir es erkennen,

Wenn wir doch vom toten Grau des Grauens,

Das vor uns hier war, nichts wissen.

Immer endet alles an dem Zaun. Und dann?

1.Jug.:     Das Alstertal ist unser Leben.

Wenn wir nicht die Zeugen hätten,

Unsre Steine, wüssten wir von all dem wenig.

 

Sie geht auf einen Findling zu.

 

1.Jug.:     Unsre Steine waren Augenzeugen

War‘n schon damals da.

In ihnen stecken die Gespräche immer noch.

Da drinnen ist das erste Echo.

                     Aber alles eilt und drängt.

Wir kommen fast zu spät.

In ihnen hat sich alles auf‘s Vergessenwerden

Vorbereitet.

2.Jug.:     Was wir wissen, wissen wir von unsren Steinen

                    Und,

 

Zu den Erwachsenen gewandt.

 

2.Jug.:     Ihr sollt uns helfen,

Dass wir auch verstehen, was die uns erzählen.

Alles, was die reden

Müssen wir erst übersetzen lassen.

1.Jug.:     Wo wir stehen, stand zuvor ein Lager.

Das war aufgestanden und danach zerfallen,

Bis auf einen Rest. Geblieben sind die Steine.

Die sind nass von immer neuen Tränen,

Und sie sind so grau,

Dass man um sie herum das Grün erkennen kann.

2.Jug.:     Hör‘ auf! Das ist Geschichte. Bla, bla, bla... .

1.Jug.:     Wir wissen noch viel mehr von ihnen.

2.Jug.:     Ja, dass sie in Rätseln sprechen.

Oder kannst du sagen, was sie meinten,

Ale sie sagten:

„Grau wird sich noch schrecklich

Mit dem Rot vermischen

Dass man auf das Grün,

Um dessentwillen ihr mit uns, den Steinen, sprecht,

Wird kaum noch hoffen können“.

1.Jug.:     Warte ab.

                    Da drüben steh‘n ja die, die leben, überlebten.

 

Ein Erwachsener kommt mit einer Liste, die er gerollt durch den Zaun schiebt.

 

Frau I.:     Diese Liste haben wir in Bergstedt

Unter einem Stein gefunden.

Darin müsst ihr lesen. Alles Namen…

1.Jug.:     Eine Liste?

Herr X.:    Eine Totenliste.

Dass die alle tot sind, weiß sonst niemand.

Offiziell hab‘n die noch nicht mal existiert.

Ihr müsst uns eins versprechen.

Alle Erwachsenen:

Niemals dürft ihr unsre Namen nennen.

                     Nein, wir wollen nicht, dass ihr nach unsren

Namen fragt...

Alle Erwachsenen:

Wir sagen sonst kein Wort.

                     Wir woll‘n ja gerne helfen,

Aber namenlos.

2.Jug.:     Bei uns wird keiner angeklagt.

Mein Gott.

Wir sprechen nicht von Schuld.

1.Jug.:     Von uns wirft keiner einen Stein.

Ihr seid doch hinter diesem Zaun.

Ihr wärt doch nie gekommen,

Wenn wir diesen Zaun nicht hätten.

Herr X.:    Wir, Frau U., Frau I., Herr D.

Und alle andren wollen nicht,

Dass Bilder, die wir zeigen,

Letzten Endes doch belichtet werden.

Das hat nichts mit Schuld zu tun.

Ihr müsst uns auch verstehen.

Alles ist erst fünfzig Jahre her.

In uns lebt noch der Schrecken.

Tag für Tag.

Die wahre Sonne

Scheint uns allen nicht zu scheinen.

Alle Erwachsenen:

Uns scheint keine wahre Sonne.

Frau I.:     Ihr wärt uns zum Steinewerfen viel zu jung.

Und ihr habt recht,

Es steht der Zaun dazwischen.

                     Ich bin außerdem zu alt dafür,

Vielleicht auch nur zu müde.

Überhaupt trifft man mit Steinewerfen

                     Ausnahmslos die Falschen.

Und sich selbst bewirft man nicht.

Und Spiegel stellte keiner auf.

2.Jug.:     Die Steine sprechen wieder.

Alles, was' sie sagen

Übersetzen sie uns

Aus Liszkowski in die Gegenwart.

1.Stein:    Von der Geburt der Schwarzhemdtyrannei.

Das ist nun fünfzig Jahre her.

Wir reden so.

Wir sagen, die Geburt war eine Sonnenfinsternis,

Die fing mit einer Sonnwendfeier an.

Die feierte das ganze Land.

Man ließ die Feuerräder von den Bergen laufen.

Damals staunten viele über diese Wende.

Wir, die Steine, haben es gehört...

Herr X.:    Es sind nur wenige von denen damals

                     Nachgeblieben.

Außer uns sind doch nicht alle tot?

Ein Jammer, welch ein Jammer.

1.Jug.:     Was bejammert er denn nun?

1.Stein.:   Wir reden so.

Vor fünfzig Jahren hatten die,

Die in der Krippe lagen

Sich als Wunder der Natur allein gezeugt,

Allein aus sich heraus geboren.

Anfangs haben sie sich auch allein genährt,

Doch dann, in einer Folge rascher Dieberei,

Die Brüste junger Mütter andrer Kinder ausgetrunken.

Und sie, wenn die Mütter schrien,

Gezwungen sie zu säugen,

Bis zu deren Tod.

Sie tranken auch die fremde Muttermilch,

Wenn sie nicht mehr zu trinken war.

Sie, so sagen wir, die Steine,

Wählten sich alleine aus.

Als Zeichen hatten sie die Axt,

Die trugen sie versteckt im Rutenbündel.

Die, die diese Axt entdeckten,

         Sahen sie fast immer viel zu spät.

Die andren sahen nichts,

Und viele sahen nicht in das Versteck.

Sie waren ausgewählt.

                     Wir Steine sagen, dass die Ausgewählten

Schon bekleidet auf die Welt gekommen sind.

Sie trugen unter ihrer Haut die schwarzen Hemden

Als ein Fruchtbarkeitssymbol

Die wurden später sichtbar.

Ihre Hemden legten sie nie ab.

Die Schwärze war ein Panzer,

         Der das Überleben garantieren sollte

Und der die Verbreitung sicherte und ihren Fortbestand,

Den planten sie sofort

Auf über tausend Jahre.

 

 

1. Akt, 2. Bild. Totenkammern

 

Im Hintergrund eine kümmerliche Baracke, davor Stacheldraht.

Links vorne, wie in einem Versteck die Jugendlichen,

rechts genauso die Erwachsenen.

In der Baracke drei jämmerlich bekleidete Frauen.

 

2.Jug.:     In die Steine fragen! So ein Unsinn!

                    So kommt man doch überhaupt nicht weiter.

1.Jug.:     Steine kann man nicht befragen

                    Man muss sie belauschen.

                    Steine führen ihre eigenen Gespräche, Urgespräche,

                    Und sie haben frische Narben.

2.Jug.:     Tausend Jahre sind doch für die Steine

Gar nichts.

Stell dir vor, die mussten sich

Den ganzen Unsinn anhör‘n

Den die schwarzen Hemden sagten.

1.Jug.:     Meinst du, weil sie tausend Jahre leben wollten?

2.Jug.:     Ist doch klar.

                    Das bringt die Steine nur zum Lachen.

1.Jug.:     Stell dir vor, die Steine lagen damals

                    Ganz genau wie jetzt.

2.Jug.:     Mit diesen Hütten drauf.

 

Von den Erwachsenen kommt Frau I dazu.

 

Frau I.:     Ich seh‘ es noch vor mir, als wär es heut‘.

Die Steine lagen vor dem Eingang zu der Villa

Auf der andren Seite.

Alles spielte sich vor diesen Steinen ab.

Herr X.:    Und auch darauf!

                    Von dort hielt man die „Reden an das Volk“.

Frau I.:     An diese Kreaturen.

Herr X.:    Jede, die hierher kam, machten sie dazu.

Ja, wirklich, Kreaturen waren sie.

Kein Mensch, der ihnen half.

Frau I.:     Da, in der Villa, wohnten die Bewacher.

Frau U.:    Alles Schwarze Hemden.

Herr X.:    Lebten da mit ihren Schwarzhemdfrauen.

Frau U.:    Und ganz oben wohnten die drei Könige,

                    Herr P., Herr T., Herr T.

                    Die wechselten sich täglich ab.

Herr X.:    Sie waren die Bewacher über den Bewachern.

Täglich zogen sie nach drüben hinter’n Stacheldraht.

Die Frauen waren dann schon lange draußen.

Frau I.:     Wenn man nur bedenkt,

Dass in den kleinen Räumen bis zu

                     Fünfmal hundert Frauen leben mussten.

Herr X.:    Leben konnte man das nicht mehr nennen.

Leben konnte man dort nicht.

Bewohnen konnte man nicht einen Meter.

Die behausten und belebten diese Schreckenskammern.

Frau I.:     In den Büchern heißen sie lakonisch:

                     Die Insassinnen.

Herr X.:    Nein, die belebten nichts.

                     Die konnten diese Räume nur besterben.

                     Sechs von den Baracken standen hier.

 

Das Schwarzhemd tritt auf und stellt sich auf den Stein.

 

Schw.:      Hört her!

Damit ihr wisst, worum es geht.

Ist ein Befehl aus Neuengamme! Äh, äh, äh...

Ich les‘ nur das, was wichtig ist...

Ihr sollt hier Heime für die Not errichten.

Durch die Bomben unsrer Feinde...

Na, das geht euch auch nichts an, äh, äh

Ihr sollt hier Plattenhäuser bauen...

Klar, mit Fundamenten. Klar.

Dann müsst ihr in die Ziegelei zur Arbeit.

Auch klar, und ihr sollt... ganz klar....

Die Trümmer zu beseitigen...

Im Falle eures eignen Todes haben wir euch

Zu beseitigen...ist auch ganz klar..

Ach, wichtig! Jetzt hört zu!

Von euch darf keine, na ich pass ja auf..

Ihr habt euch also streng daran zu halten.

Niemand darf Kontakt zu der Bevölkerung...

         Und die natürlich nicht zu euch..

Die werden alle hart bestraft..

Ihr habt euch streng von denen abzuschnüren,

Nicht ein Wort zu denen!

Wie ihr wisst, lebt die Bevölkerung

Sehr nah an uns.

         Ihr richtet euch danach!

Und denkt daran:

Dies Lager ist noch praktisch neu.

Erst seit August. Ihr seid die ersten.

Ja, in diesem Jahr.

August des Jahres 1944....

Arbeitslager…..Arbeitslager…

Herr D.:    Und es war das letzte eures Tausendjahrereiches.

Arbeitslager!!!

Nein, ein Arbeitslager war es sicher nicht,

Bestimmt nicht.

 

Schwarzhemd tritt ab.

 

Frau I.:     Nächstes Jahr im Mai war alles aus.

                     Es wurde wieder abgerissen.

Frau U.:    Bis auf eine Hütte. Die steht heute noch.

Ich glaube eine Frau wohnt drin.

Ich bin nicht sicher.

2.Jug.:     Mai, der Wonnemonat.

1.Jug.:     Dieser Mai war keiner mehr ein Wonnemonat.

2.Jug.:     Da kam die Befreiung,

                     Wenn das keine Wonne war?

1.Jug.:     Ein Wonnemonat ist doch ganz was anderes.

Die Insassinnen waren doch fast tot.

Das könn‘n wir, glaub‘ ich,

Gar nicht nachempfinden.

Herr X.:    Unsre Jugendlichen..

Frau U.:    Waren Sie nie jung?

Herr D.:    Ich weiß, dass diese Frauen wirklich

Kleine Siedlungshäuser bauen mussten,

Und sie bauten.

Herr X.:    Keine Siedlungshäuser, sondern Plattenhäuser

Für die Ausgebombten.

Von dem Lager gab es einen Lageplan.

Herr D.:    Natürlich.

Aber von der Totenliste

Hab‘ ich in den Protokollen nichts gelesen.

Stellen Sie sich vor!

Darauf sind 35 Namen. Alles Tote.

Und kein Mensch, der davon weiß.

Und dann spricht der von einem Arbeitslager.

2.Jug.:     Er hat recht.

Die Steine haben davon nichts gesagt,

Es nicht einmal erwähnt.

1.Jug.       Sie müssen sich erinnern,

                     Wenn sie so was können.

2.Jug.:     Sich erinnern,

Ohne sich an etwas zu erinnern,

Das ist Art der Steine.

1.Jug.:     Oder das Vergessen einfach wollen.

Alles damals war so nah am Ende.

2.Jug.:     Dass der Krieg zu Ende ging,

                     Erfuhr doch keiner.

1.Jug.:     Sicher hofften es die meisten.

2.Jug.:     Die mit ihren schwarzen Hemden

Fürchteten bestimmt den Tag.

Die wollten nicht dran glauben.

 

Auf der Bühne wird es dunkler und die Baracke wird in einen hellen

Lichtkegel getaucht. Frau B. tritt auf.

 

Frau B.:    Ich bin Frau B.

Ich rede nicht von dem

Was man Gewissen nennt,

Und die Geschichte mit der Schuld

Hab ich nie ganz verstanden.

 

Frau B. zeigt zu den Jugendlichen.

 

Frau B.:    Ihr da drüben wollt ja Einzelheiten hören.

Was ich meine sind nicht Einzelheiten

Sondern Glieder einer bösen Kette.

 

Frau B. macht ihre Haare auf. Sie ist jetzt eine junge Frau.

 

Frau B.:    Peter! Peter! Was ist das für Licht!

Das ist doch streng verboten. Sieh mal hin!

 

Der Mann von Frau B. tritt auf.

 

Herr B.:    Tu‘s lieber nicht. Wir sehen nichts.

Frau B.:    Da draußen, auf dem Feld ist alles hell erleuchtet.

Herr B.:    Das geht uns nichts an.

Frau B.:    Was uns im Dorf verboten ist,

                     Ist auf dem Feld erlaubt?

Herr B.:    Sei still.

Sprich wie die and‘ren

Hinter vorgehalt‘ner Hand.

Daher sind doch die Frauen,

Die die Häuser bauen müssen.

„Plattenbüttel“. Na? Kapiert?

Die müssen Unterkünfte bauen für die Menschen,

Die nicht unterkommen.

Ausgebombte!

Diese Frauen dürfen selbst natürlich nicht dahin.

Frau B.:    Das weißt du alles?

Warum hast du mir das nie erzählt?

Weißt du noch mehr? Erzähl‘.

Es hört doch keiner zu.

Herr B.:    Ist vielleicht besser so.

Dann weiß ich‘s nicht allein.

Komm her. Ich zeig dir was. Komm mit.

 

Sie gehen an eine Stelle wo ein langes weißes Tuch

über eine Bodenöffnung gelegt ist.

 

Herr B.:    Du weißt, ich bin gewissenhaft.

Das Grabbuch für den Friedhof Bergstedt

Führ‘ ich nun schon all die Jahre.

                     Ich, kein anderer, darf etwas darein schreiben.

Und es steht tatsächlich auch nichts Neues drin.

Von mir nicht

Und von keinem anderen.

Und nun sieh hin.

 

Er zieht das Tuch beiseite.

 

Herr B.:    Sieh in die Grube.

Frau B.:    Ist das da ein Grab? Mein Gott ein Grab. So lang.

So viele Beine.

Sind das alles Tote? Tote Frauen?

                     Liegen die auf Stroh? Auf weiter nichts?

Herr B.:    Das Grab mit all den Frauen hab‘ ich so gefunden

Wie du es hier siehst.

Die sind hineingeworfen worden.

Frau B.:    Die sind nur noch Haut und Knochen.

Und die Köpfe!

Herr B.:    Alle kahlgeschoren. Schlimm.

Die armen Menschen.

Wer hat die hierher geschafft.

Ich kann es nicht begreifen.

Frau B.:    Weißt du auch wie viele darin liegen?

Herr B.:    Nein, nein. Weiß ich nicht.

Sind alle namenlos.

So kahlgeschoren.

Was bleibt einem Menschen,

Wenn man ihm die Haare raubt.

Sie liegen an der Friedhofswand.

Da dürfen keine Gräber sein.

Frau B.:    Brutal.

Dahinter schließt sich doch der Gasthof an,

„Zur Linde" nicht?

Herr B.:    Ich hab‘ gehört, dass eine wie die andre

Jüdin sei.

Ein Gärtner hat‘s erzählt.

Der hat das Grab geschaufelt.

 

Herr B. tritt wieder zu den Erwachsenen.

Frau B erzählt weiter und steckt dabei ihre Haare wieder auf.

 

Frau B.:    Selbst im Grab ließ man die Frauen

Nicht in Ruh‘.

Man schaufelte es nicht mal zu.

Sie wurden selbst der Ruhe in dem Grab beraubt.

                     Man nahm sie wieder raus.

In einer Nachtaktion hat man sie gleich danach

Herausgenommen. Einfach so.

Sie waren plötzlich wieder fort.

Es lag nur noch das Stroh im Grab.

Für die gab‘s wirklich keine Ruhe.

In den Tod gejagt, getrieben

Jagte man sie nach dem Tod in einen neuen Tod

                     Und aus dem Grab heraus.

                    Wir konnten ihren Weg nicht mehr verfolgen.

 

Frau B. geht zurück zu den Erwachsenen.

 

2.Jug.:     Ich bin wie benommen.

1.Jug.:     Mir ist richtig schlecht geworden.

 

Von den Erwachsenen kommt Frau E.

Sie hat einen Korb mit Äpfeln und Brot. Davon versteckt sie in einem Gebüsch.

 

Frau E.:    Damals, als man sie dann freiließ,

Das war viel, viel später,

Aber mir fällt‘s jetzt grad‘ ein...

Das Lager war ganz dicht an unsrer Gartengrenze.

Deren Grenze grenzte gleich an unsren Zaun.

Ich hatte oft, so oft es ging, in einer Hecke

Brot und Äpfel für die Frau‘n versteckt.

Die haben‘s sich geholt, ganz heimlich,

Haben‘s gleich gegessen oder mitgenommen.

Als man sie dann freiließ...

 

In der Baracke stehen die Frauen auf und kommen auf Frau E. zugelaufen.

 

Herr B.:    Wenn ich mich daran erinner‘,

 

Die Insassinnen bestürmen sie.

 

1.Ins.:      Das ist sie, die hat uns auch geholfen.

 

1.Ins. küsst Frau E. die Hand.

Die anderen Insassinnen hängen ganz schnell drei,

vier schwarze Hemden auf eine Wäscheleine.

 

2.Ins.:      Mein Freude...Nein..Du Freundin...

Du uns Kleider geben..

Du nicht Kleider schwarz, nicht rot, nicht braun.

Du mich sehen? Hab‘ ich Zahne? Alles Gold?

Alles nicht kaputt.

Du mich glücklich.

Frau E.:    Ja, ich geb‘ euch Kleider.

Die könnt ihr von mir aus haben.

 

Frau X gibt jeder ein Kleid.

 

2.Ins.:      Ich Paris, Franzosin.

Ich Geschäft Paris. Du viel Geschenke:

Seife, Seife. Du Parfum.

                     Ich danken, danken!

 

Die Frauen gehen wieder in die Baracke zurück.

Sie legen die Kleider wieder weg und nehmen die Hemden von der Leine.

 

Frau E.:    Nein, es war noch lange nicht so weit.

Es fiel mir auch nur ein.

                     An Seife dachten alle.

Reinigung des Leibes.

Jeder dachte an die Reinigung des Leibes.

Nein, es war noch lange nicht so weit.

 

Von den Erwachsenen stürzt Herr X. auf Frau E. zu.

 

Herr X.:    Gefang‘ne fliehen aus der Stadt. Aufs Land!

Zu uns !

Frau E.:    Zu uns?

Herr X.:    Es heißt, ein Mann aus unsrem Dorf

Hilft ihnen.

Hat vier Wagen voll mit Frauen,

Die er nach hier draußen schaffen will.

Er hätte beinah‘ einen Polizisten umgefahren,

                     Aber der hat ihn und alle laufen lassen.

Wohin soll das führen,

Was soll bloß noch werden!

Frau E.:    Bald weiß keiner, wer wen fliehen lassen wird

Und kann,

Und wer selbst zu den Fliehenden gehört.

 

Von den Erwachsenen kommt Frau K. dazu.

 

Frau K.:    Es stimmt, was Sie erzählen.

Trotzdem war es anders, ja ganz anders.

 

Auf die Bühne stürmen Herr K. und neun der Insassinnen.

Sie sind völlig erschöpft. Der Mann treibt sie an.

 

Herr K.:    Los, macht weiter.

Wenn die uns erwischen ist es aus.

Die stell‘n uns an die Wand.

1.Ins.:      Nein, lasst mich, ich will sterben.

Herr K.:    Du stehst auf! Mach zu.

In Sasel bring ich euch auf meinem Boden unter.

Los steh auf.

 

Die andren Frauen helfen. Ein Schwarzhemd tritt auf und schlägt sofort auf Herrn K. ein.

 

Schw.:      Schon auf der Flucht? Ich wird‘ euch helfen.

Los zurück, verfluchtes Pack.

Herr K.:    Hör‘ auf, du Idiot. Du bist verrückt!

Wir sind doch unterwegs!

         Die Stadt brennt lichterloh.

Kein Mensch kann mehr zurück.

Lass uns schon durch.

Sieh zu, dass du dich selber rettest!

Hinter uns ist eine Feuerwand.

                     Mach Platz! Geh weg!

Das Feuer ist gleich hier!

 

Das Schwarzhemd ist erstaunt und bleibt stehen und

lässt die Flüchtlinge durch und tritt ab.

Die Gehetzten kommen zu Frau K. zurück.

 

Herr K.:    Wir müssen helfen.

Frau K.:    Sind die aus der Stadt?

Herr K.:    Ich weiß nicht,

Hab‘ sie unterwegs gefunden.

Frau K.:    Los schnell auf den Boden. Und seid ruhig.

Legt euch oben hin. Seid still.

Ich bring‘ euch Suppe.

                     Nehmt euch Decken mit.

Ein bisschen Kohl, ein bisschen Mehl und Wasser.

Mehr ist nicht.

 

Herr K. tritt ab. Die Insassinnen ebenfalls.

Aus der Baracke kommt Herr Y. Er geht auf Frau K zu.

 

Herr Y.:    Du kennst mich gut.

Ich habe viel geseh’n,

Und jetzt im Krieg ist alles möglich.

In der Hütte liegt ein junges Mädchen.

Hat ein Kind gekriegt.

Nein, das ist alles ganz und gar unglaublich.

 

Herr Y. schüttelt immerzu den Kopf.

 

Herr Y.:    Nicht ein bisschen Hilfe durfte ich ihr geben,

Und es ist doch mein Beruf.

 

Herr Y tritt ab.

 

Frau K.:    Herr Y hat niemals mehr davon gesprochen.

Nie mehr, bis er starb.

 

Frau K geht zurück zu den Erwachsenen.

Aus der Baracke kommen zerlumpte Frauen mit ihren Bewachern.

Die Frauen murmeln unentwegt.

 

Insassinnen: Hunger. Hunger. Hunger.

 

Von den Erwachsenen kommt Frau I.

 

Frau I.:    Das müssen mehr als hundert sein.

Hier, nehmt mein Frühstücksbrot.

 

Sie holt ihr Frühstücksbrot aus der Tasche und wirft es in die Reihen.

Sofort schlägt die Wache mit einer Peitsche nach der

ersten Insassin, die sich zu bücken wagt.

Ein anderer schlägt mit der Peitsche nach Frau I.

Das Brot bleibt unter ihren Füßen liegen.

 

Frau I.:    Wir haben wirklich nicht viel mehr gewusst, als dies.

Wir wohnten auch sehr weit entfernt.

Ganz in der Nähe aber wohnten Schreber.

Ja, die wohnten Tür an Tür mit denen.

Schrebergärtner solltet ihr befragen.

Die hab‘n mehr gewusst

Ich glaube, die sind alle

Längst, längst tot.

2.Jug.:     Du siehst, sie hat von nichts etwas gewusst.

1.Jug.:     Die arme Frau. Die Ärmste.

 

 

1. Akt, 3. Bild. Gebot der Steine

Bühnenbild wie zuvor. Herr N. tritt auf.

 

Herr N.:    Auf die Steine dürft ihr gar nicht achten.

Die verstehen von so kleinen Zahlen nichts.

Das Lager stand doch nicht nur

Von August bis Mai.

Nein, das stand mindestens schon

Ein Jahr länger hier. An dieser Stelle.

Arbeitslager? Nein das war kein Arbeitslager.

Die Baracken standen in der Nähe

Der Kanonen gegen Luftkommandos.

 

Herr N. legt seinen Mantel ab und ist jetzt ein Hitlerjunge.

 

Herr N.:    Die Baracken waren nur zum Schutz der Flak.

Das ist ganz sicher.

Nachts war alles hell erleuchtet.

Davon war ich damals ganz begeistert.

Überhaupt von allem war ich damals ganz Begeistert.

Ich war überall. Ich stromerte herum.

Ich sah in jedes Fenster.

 

Herr N. sieht in eines der Barackenfenster.

Plötzlich ertönt ein lautes Frauenkreischen aus der Baracke.

 

Herr N.:    Die da drinnen sind nur Haut und Knochen,

Werden abgeduscht.

Das Wasser ist natürlich eisig kalt.

Ist ihre Waschbaracke, glaube ich.

Die müssten wegen ihrer vielen nackten Knochen

Aneinander schlagen.

 

Ein Bewacher kommt heraus.

 

Bew‘er.:    Na, du Bürschchen?

Musst in fremde Fenster gucken?

Hau man lieber ab. Nu mach schon!

Ist doch nichts für dich.

 

Aus der Baracke kommt ein Zug Frauen in blauweißgestreifter Kleidung.

Darauf sind große schwarze Zahlen zu sehen.

Sie tragen Holzpantinen.

Der Wachmann geht und begleitet die Frauen.

Es sind auch Bewacherinnen mit blanken Stiefeln dabei.

 

Bew‘in.:    Was machst du da! Hau ab! Sofort!

Herr N.:    Bringt ihr die weg?

Bew’in.:    Die geh‘n zur Arbeit. Jetzt sei still!

                     Verschwinde, dass wir dir nicht Beine machen müssen.

 

Die Bewacherinnen schlagen mit den Peitschen zwischen die Frauen.

 

Herr N.:    Warum seid ihr denn so viele?

Bew’in.:    Bist du jetzt wohl still?

                     Sonst hetz ich unsren Schäferhund auf dich!

Bew’er.: Die gehen in die Stadt, in ausgebombte Viertel.

                     Da sind Trümmer zu beseitigen,

                     Nu weißt du, was sie machen. Nu hau aber ab.

 

Herr N geht und zieht seinen Mantel wieder an.

 

Herr N.:    Es hieß, dass man sie in die Trümmer schickte,

Um die Leichen auszubuddeln,

Und man sagte auch,

Die würden vollgepumpt mit Schnaps.

Das soll die Übelkeit in ihnen unterdrücken.

Jeden Morgen gingen sie durchs Dorf,

Auf immer neuen Straßen.

Viele waren es. Ein langer Zug.

         So zweimal hundert Frauen.

Morgens ging es ab nach Poppenbüttel,

Dort in einen Zug und los.

Dle hatten etwa dreißig Männer zur Bewachung.

Waren ausgerüstet und bewaffnet

         Wie die Schwarzhemdmänner.

Schäferhunde hatten sie.

Viel schlimmer, als das Eis der Duschen,

Waren die Bewacherinnen.

Was die machten, machten die gleich ganz.

                     Die machten ganze Arbeit,

Und die bildeten sich toll was ein

Auf ihre blauen Augen und die blonden Haare.

Waren alles junge Frauen.

Jede war in einem unersättlich reifen

Frauenalter, zwischen zwanzig, dreißig Jahren.

Die Bewacher waren sehr viel älter,

Sehr viel freundlicher und milder. Um die sechzig.

 

Frau I. wirft wieder Brot in die Reihen, genau, wie im vorigen Bild.

Bew’er. zu einer Insassin:

 

Bew’er.:    Hast‘s nicht geseh‘n? Heb‘s auf. Ist gut.

                     Die Leute woll‘n euch Gutes tun.

 

Die Insassinnen stürzen sich sofort darauf.

Wie im vorigen Bild holt jetzt auch Frau E. aus ihrem

Korb Äpfel und Brot und verteilt sie an die Insassinnen.

Die reißen ihr das aus der Hand und verschlingen es gierig.

 

Bew’er.:    He, gute Frau, das ist verboten.

Lassen Sie das lieber sein,

Sonst werden Sie noch abgeholt.

Frau I.:     Ist ja schon gut.

Sie sehen doch, wie die Hunger haben.

Und das bisschen Brot, ‘n Appel.

Is‘ doch nichts dabei.

Herr N.:    Die Männer war‘n nicht streng.

Die ließen vieles durch.

Die war‘n zwar im Vollzug,

Doch sie vollzogen nicht, wie manche glaubten.

 

Insassinnen, Bewacher ab. Herr N. Frau I. zurück zu den Erwachsen.

Bei den Jugendlichen klingelt ein Telefon.

Frau P. wird eingeblendet. Sie ist bettlägerig.

 

1.Jug.:     Ja? Wer spricht?

Frau P.:    Ich bin Frau P. Ich weiß noch einiges

Das könnt‘ euch intressieren.

         Damals war ich selber Kind.

                     So elf, zwölf Jahre.

Niemand der Familie hätte je Kontakt

Zu den KZ- Insassinnen gehabt.

Das war ja gar nicht möglich.

         War viel zu gefährlich.

Aus dem Lager drang nun wirklich gar nichts raus.

Bis zur Umzäunung hätte sich

Kein einziger von uns gewagt.

Man fürchtete, wenn ich so sagen darf

Dass die Umzäunung um sich greifen würde.

Plötzlich säß man selber drinnen.

         Nein, kein Mensch ging an den Zaun.

                     Nur meine Mutter, diese kleine Frau.

 

Von den Erwachsenen kommt eine Frau auf dem

Fahrrad und radelt hastig auf den Zaun zu. Sie wirft kleine Päckchen,

die sich im Gitter verfangen. Dann radelt sie schnell zurück.

 

Frau P.:    Sie fuhr mit ihrem Fahrrad auf das Lager zu.

Man sah ihr ihren Mut nicht an.

Ihr Kommen war ein Eilen, Fliehen.

Reste Brot und was sie sonst noch hatte

Und entbehren konnte, warf sie denen zu.

Das meiste blieb im Stacheldraht,

Im hohen Gitter hängen.

Immer war sie wieder fort,

Wenn die Bewacher kamen.

 

Ein Bewacher kommt heraus.

 

Bew’er.:    War doch schon wieder einer da!

Verflucht noch mal.

Frau P.:    Die drinnen träumten von ein wenig Suppe.

Später nahmen wir Zigeunerinnen auf.

Die haben uns erzählt,

Wie man dort drinnen strafte für Verbrechen,

Wie die sagten,

Wo‘s doch wirklich nichts mehr zu verbrechen gab.

 

Eine Bewacherin tritt auf und zerrt eine Insassin mit sich mit.

Mit Fußtritten stößt sie die zu Boden.

 

Bew‘in.:    Das nächste Mal stell ich dich wieder

In das kalte Becken.

Kommst den ganzen Tag ins kalte Wasser.

Hab heut‘ meinen guten Tag.

Heut kriegst es warm.

         Drück nur die Kippe auf dir aus.

 

Sie reißt der Insassin die Lumpen hoch und die

Beine auseinander und drückt genüsslich die

Zigarette in ihrem Schenkel aus.

 

Bew‘in.:    Ich warn dich, wehe, wenn du schreist.

Du Miststück, Jetzt kommt der Geschmack.

Halt still, kein Wort,

Sonst schick ich dich nach Neuengamme.

 

Die Insassin windet sich, sagt aber kein Wort.

 

Bew‘in.:    Ah, das hat gewirkt.

 

Die Bewacherin holt aus der Tasche zwei kleine Glasfässchen.

 

Bew‘in.:    So, erst ein bisschen Salz.

                     Ja, das tut gut.

 

Sie reibt mit dem Finger nach. Die Insassin schweigt und windet sich.

 

Bew‘in.:    Gefällt dir wohl?

Und jetzt als Nachtisch Pfeffer.

Wehe, wenn du nur ein Tönchen sagst.

Du darfst dich kratzen.

Kratz dich! Los! Nach Herzenslust, mein Täubchen!

Wehe du nimmst Spucke!

Miststück, Hure! Machst du nur Theater?!

 

Die Insassin springt auf und läuft zurück in die Baracke.

Die Bewacherin hinterher.

 

Bew‘in.:    Jetzt schlag ich dich tot!

Wenn ich dich kriege!

Frau P.:    Die Zigeunerfrauen haben uns erzählt,

Dass man in Sasel keine Folterungen vornahm.

Dies war eine Kleinigkeit an dem

Was andre litten. Das war allen klar.

Wir fanden trotzdem,

Dass die zwei Zigeunerinnen fast schon tot war‘n

Als sie zu uns kamen.

Die im Lager kriegten reine Wassersuppe.

Die bestand aus Wasser und Kartoffelschalen.

Aus sonst nichts. Aus gar nichts weiter.

Ja, das wollte ich euch sagen.

Ein Bewacher soll ein Mensch gewesen sein.

Der half den Frau‘n beim Tragen schwerer Kannen.

Damals hatten sie die Milch zu schleppen.

War in Sasel. Dort steht jetzt ein Supermarkt.

 

Frau P. legt auf.

 

1.Stein:    Hört her, hört zu.

Wir Steine geben euch ein Rätsel auf.

Wir sagen:

„Wir, die Steine, haben ein Gebot:

Von uns darf sich kein einziger ent - setzen,

Und dort, wo wir stehen,

Müssen wir ver - stehen lernen.

Das ist unsre Art sich zu bewegen,

Und be - greifen werden wir nie können“.

 

Von den Erwachsenen kommt Frau D.

 

Frau D.:   Jemand muss mal einen Schlussstrich zieh‘n.

1.Jug.:     Den Schlussstrich? Unter was?

2.Jug.:     Die weiß noch immer nicht,

Was wir hier machen.

                     Sie, Frau D.,

Bis jetzt zieht immerzu an irgendeiner Stelle

Irgendjemand. seinen Schlussstrich,

                     Und die woll‘n wir grade ausradieren.

                     Kann man das denn nicht versteh‘n?

Wir wären kopflos,

Könnten überhaupt nichts mehr verstehen,

Wenn wir einen Schlussstrich gelten lassen würden.

Frau D.:   Ich weiß nur, dass viele Frauen

Essenreste an das Gitter brachten

Und hinüberwarfen.

Und den Zug der Frauen, sah‘n wir alle,

Zog sich manchmal endlos durch die Straßen.

 

Aus der Baracke kommen in Decken gehüllte Frauen heraus.

 

Frau D.:   Keine hatte jemals ordentliche Kleider.

Höchstens eine alte Decke umgehängt.

Die gingen immer bis nach Poppenbüttel.

Dann in einen eignen Wagen.

Wenn die drin waren, wurd' der einfach abgeschlossen.

Nicht von drinnen. Wie ein Viehzug.

Dann ging‘s ab.

Die trugen keine Holzpantinen.

Hatten doch nur Lappen an den Füßen.

Die Bewacher schlugen sie,

Wenn sie sich nach den Essenresten bücken wollten,

Oder, wenn sie sich nicht schnell genug bewegten.

         Damals war ich sechzehn, siebzehn.

Meine Güte!

Mir war alles gar nicht so bewusst.

                     Ich dachte auch, dass das so ist.

         Das muss so sein, hab‘ ich gedacht.

Ich hab' gedacht:

Das alles hat so seine Ordnung.

 

 

1. Akt, 4. Bild. Spottdrossel

 

Bühne wie zuvor. Zwei große Steine sind ausgeleuchtet.

Sonst ist niemand auf der Bühne.

 

1.Stein:    Die horchen frech in unsre Urgespräche.

2.Stein:    Für so kurze Augenblicke

                     Lebt ein Stein zu lange.

1.Stein:    Viel zu lange

2.Stein:    Die vergessen, dass wir hier schon lange..

1.Stein:    ...als noch gar nichts war..

2.Stein:    Wir sind schon dagewesen,

                     Als die anderen vor ihnen,

                     Noch nicht existierten.

1.Stein:    Und die davor auch noch nicht.

2.Stein:    Die Tausendjährigen,

                     Du weißt doch,

1.Stein:    Ach, die dachten, dass sie schlauer wären.

2.Stein:    Alles haben wir erlebt.

1.Stein:    Und niemals eingegriffen.

2.Stein:    Niedertracht und Glück und Blutvergießen,

                     Schicksal, Unglück.

                     Alles hat sich über uns ergossen.

1.Stein:    Nach dem Maß der Steine

2.Stein:    Alles wurde aufgerichtet und gerichtet...

1.Stein:    Was uns färben kann

                     Sind Regen und ein bisschen Schnee.

2.Stein:    Ob die das nicht bedenken,

Die sich auf uns hocken

Sich auf unsre Augen stellen?

 

Von außerhalb kommen einige Insassinnen,

die werden von einer Bewacherin angetrieben.

Sie sollen zurück in die Baracke.

Eine Insassin ist verletzt und muss auf einem Bein hinken.

 

1.Ins.:      Unter den Bewacherinnen ist die P. die schlimmste.

                     Sonst würd‘ ich der Ärmsten helfen.

2.Ins.:      Lass das sein, du kommst in Teufels Küche.

                     Hat sie eben Pech gehabt.

1.Ins.:      Jetzt geh ich einfach hin

                     Und stütz' sie ab.

 

1. Insassin geht zu der Hinkenden und will ihr helfen. Sofort geht die

Bewacherin dazwischen.

 

Bew'in.:    Ich schlag euch tot

                     Wenn ihr der helft.

         Wir spielen „Hinkefuß“ bis zur Baracke.

Hast doch selber schuld!

Was wirfst du dir die Steine auf die Füße.

Denkt, ich fall‘ drauf rein.

Ihr Simulantenpack.

Na, lange macht ihr‘s sowieso nicht mehr.

Die Zeit, die ich euch hab‘,

Sollt ihr genießen.

1.Ins.:      P. Den Namen merk‘ ich mir.

                     Wenn ich hier jemals rauskomm',

2.Ins.:      Wirst du sicher nicht.

1.Ins.:      Wenn ich hier jemals rauskomm'

Knöpf‘ ich mir die vor. Privat, verstehst du.

Beide Brüste werde ich ihr eigenhändig drehen,

Dass sie keinem Mann sich mehr zu

Zeigen wagen wird.

Bew'in.:    Ihr redet miteinander? Da!

Für jedes Wort ein Schlag auf euren Kopf,

Auf euer Maul!

Ihr habt vergessen,

Dass ich meinen Mann verloren hab‘.

Ist eure schuld! Durch euch!

Den Krieg habt ihr uns aufgedrückt.

Ich hab‘ nicht nur die Peitsche.

Ihr vergesst, dass ich die Rache dafür will.

Das ist mein dritter Arm.

Ich quäl‘ euch allesamt zugrunde!

 

Die verletzte Insassin bricht zusammen.

 

Bew'in.:    Stehst du auf! Steh‘ auf sofort!

                     Ich schlag dich auf der Stelle tot!

3.Ins.:      Helfen Sie mir doch. Ich fleh Sie an.

Erlauben Sie, dass mir die andren helfen.

Alles wird‘ ich für Sie tun.

Bew’in.:    Das Spiel heißt „Hinkefuß“. Steh‘ auf!

3.Ins.:      Den ganzen Weg vom Bahnhof bis hierher..

Bew’in.:    Sonst geht‘s nach Neuengamme!

                     Überleg‘ es dir.

3.Ins.:      In eins, zwei Stunden

                     Kann ich wieder laufen. Das geht schnell vorbei.

 

Sie küsst der Bewacherin die Stiefel.

 

3.Ins.:      Lassen sie sie helfen, bitte, bitte.

Eine nur, dann geht‘s.

Bew’in.:    Dir helf‘ ich selbst.

                     Wenn du‘s so willst, dann bitte, bitte.

 

Schlägt mit der Peitsche auf sie ein.

Die Verletzte kriecht jetzt auf allen Vieren weiter.

 

Bew’in.:    Wie heißt unser Spiel?

3.Ins.:      „Hinkefuß".

Bew’in.:    Steh‘ auf, komm hoch, verfluchte Simulantin.

Was ihr braucht, ist jemand,

Der euch antreibt, der euch Beine macht.

Ich müsste strenger mit euch umgeh‘n.

Unter meiner Peitsche starb noch keine.

1.Ins.:      Das ist wahr.

An ihren Schlägen ist noch keine umgekommen.

In den andren Lägern soll es viel, viel

Schlimmer sein. Viel schlimmer.

2.Ins.:      Sollten ihr noch dankbar sein.

1.Ins.:      Ich könnt‘ sie küssen.

                     Werd‘ ich bei Gelegenheit.

2.Ins.:      Vielleicht vergisst sie dann den Mann.

1.Ins.:      Die ganz bestimmt nicht.

Bew’in.:    Gut, du willst es ja nicht anders.

 

Die Bewacherin setzt sich auf den Rücken der Verletzten und treibt sie an.

 

Bew’in.:    Will dir deinen Wunsch erfüllen.

Los, trab ab. Hü, hott! Hü, hott!

Gleich sind wir da!

Mein Pferdchen lauf!

Galopp! Galopp!

 

Alle verschwinden in der Baracke. Es klingelt ein Telefon.

Man hört, wie ein Hörer abgenommen wird.

Man erkennt die Stimmen von Frau H. und den Jugendlichen.

 

Frau H.:    Ihr seht mich nicht. Ich bin Frau H.

Ich bin so alt und bin so furchtbar hässlich.

Nein, ich zeig‘ mich nicht.

Ich will euch aber etwas zu dem Hunger sagen,

Auch, wenn ihr es nicht versteht.

2.Jug.:     Wir hör‘n Sie gut und wir versteh‘n Sie gut.

Wir wollten grad‘ zum Essen geh‘n.

Wir wissen also, was das ist.

Wir haben nämlich Hunger.

Frau I.:     Hört mir bitte zu.

Es dauert doch nicht lange.

Wir, die damals Hunger hatten

         Und die Frauen aus dem Lager, wissen,

Dass der Hunger mehr als nur Bedürfnis ist.

Er ist Erfahrung, die man nie vergisst.

2.Jug.:     Noch etwas?

Frau H.:    Hört noch zu. Das ist doch wichtig.

Hunger war die Frage nach der Existenz,

Wenn die durch Sasel zogen,

 

Einzelne Insassinnen kommen in Lumpen gekleidet aus dem Lager heraus.

 

Frau H.:    War der Zug so lang,

                     Dass wir durch ihre Reihen gehen mussten,

         Wenn wir einfach auf die andre Straßenseite wollten.

Alle hatten runde, off‘ne Münder,

Tupfer,

                     Kleine Höhlen im Gesicht.

                     Die riefen, murmelten.

 

Die Insassinnen haben immerzu das Wort auf den Lippen.

 

Insassinnen: Hunger..Hunger…Hunger…Hunger…

 

Ein Bewacher kommt hinterher gelaufen.

 

Bew.:       Lasst verdammt noch mal das Betteln,

                     Lasst das Betteln sein.

 

Auf einen der Steine springt plötzlich ein Schwarzhemd.

 

Frau H.:    Plötzlich stand ein Schwarzhemdstandortarzt

Auf einen dieser Steine,

Und er wollte,

Dass die Frauen zum Appell erscheinen.

Für die Frauen war ganz klar,

Was kommen musste: Selektion.

Frau I.:     Für viele würd‘ das heißen:

Ab nach Neuengamme oder sonst wohin

In die Vernichtung.

 

Die Insassinnen geraten in wilde Panik und Hektik

und füllen sich ihre Lumpen mit Papier auf und

versuchen mit allen Mitteln und mit Fetzen Buntpapier sich

Farbe ins Gesicht zu zaubern.

Gezank unter den Frauen.

 

Frau I.:     Plötzlich waren alle wach.

                     Das brachte sie in Trapp.

         Sie hatten alle irgendeinen Rest von roter Farbe,

Auf Papier, in irgendeinem Stoff.

Das schmierten sie sich ins Gesicht

         Und schminkten sich, das war zu ihrem Schutz.

Sie stopften sich die Lumpen auf mit Gras,

Papier, mit irgendetwas, dass sie dicker wurden,

Und erschienen zum Appell.

Sie hofften, so nicht aussortiert zu werden.

         Jede, die man aussortierte,

                     Würde auch beseitigt werden, das war klar.

Ich wünsche keiner Jugend dieser Welt

Den Hunger, den die hatten.

 

Es ist einen Augenblick total still. Alle lauschen auf das Gezwitscher einer Amsel.

 

Schw.:      Bin euer Schwarzhemdstandortarzt.

Geh‘ allen Klagen nach und kontrolliere.

Man beklagt das Essen.

                     Überall. Nicht nur bei euch.

Hab‘ Essen untersucht, bei euch.

Die Werte liegen wenig unter Werten,

Wo die Werte für Verpflegung liegen sollen.

Reichen eben aus. Das ist genug..

Gehalt an Kalorien ist festgelegt,

Ist wissenschaftlich untersucht!

Stellt ganz und gar neutrales Amt zufrieden.

Weicht nur wenig ab mit einer Toleranz nach unten.

Andre liegen viel, viel tiefer.

Habe selbst Vergleiche mit Tabellen angestellt;

Kann euch nur gratulieren.

Euch geht‘s gut.

Wir wollen ja nicht Winterspeck ansetzen, oder?

 

Arzt lacht: Kleiner Scherz von mir.

 

Arzt wieder streng.

 

Schw.:      Es ist nicht angestrebt,

Mit der Ernährung zusätzliche Polster anzulegen.

Kann nicht Sinn des Arbeitslagers sein.

 

Arzt schreit sie an.

 

Schw.:      Alle sollen alles geben und nichts dafür nehmen!

 

Arzt wieder ruhig.

 

Schw.:      Zubereitung, Sauberkeit

         Sind in der Häftlingsküche ausgezeichnet.

Spreche hier von vorbildlich und musterhaft.

Hab‘ nichts Bemerkenswertes,

Meine Ungesundes, in mein Protokoll zu nehmen.

Schwarzhemdstandortarzt befindet alles

„Gut“ und „Sauber, einwandfrei“.

Verwaltung ist gerecht.

Ein Glücksfall dieses Außenlager Sasel.

Andre Läger leben mit ganz andren

Kompromissen und Entscheidungen.

Wir singen jetzt ein Lied, drei, vier….

 

Er stimmt an.

 

Schw.:      „Vernichtung durch die Arbeit..“

 

Keiner singt mit.

 

Schw.:      Keiner kennt das? Oder dies:

„Die Arbeit macht euch frei, die Arbeit...“

Auch nicht? Na, dann hör‘n wir mal in die Natur.

Die kann das besser.

 

Die Drossel singt wieder.

 

Schw.:      Schön, nicht wahr?

                     Das ist ‘ne Amsel oder eine Drossel, nicht?

 

Ein Bewacher antwortet sofort befehlsgemäß und brüllt über die Leute.

 

Bew’er.:    Herr Oberarzt, ist eine Drossel!

                     Eine Spottdrossel, Spottdrossel!

 

Einige, wenige Insassinnen lachen laut auf.

Dann tritt einen Augenblick Ruhe ein.

Stimme von Frau H.

 

Frau H.:    Von den Sas‘lern ist das Frauenlager

                     Völlig übersehen worden.

 

 

1. Akt, 5. Bild. Ein Interview

 

Bühnenbild wie zuvor. Es kommen 1. und 2.Jug.

und andere Jugendliche auf die Bühne.

Rechts stehen wieder die Erwachsenen.

Zwei Bewacher montieren ein Schild an der Baracke.

 

1.Bew.:    Jetzt hat alles seine Ordnung.

2.Bew.:    Liest sich gut.

Die Schrift ist sauber:

„Arbeitslager Sasel

Stehenbleiben ist verboten“!

Das schreckt ab.

 

Die Bew. wieder ab. Von den Erwachsenen kommt Frau B.

auf die Jugendlichen zu und übergibt denen ein Papier.

In der anderen Hand trägt sie ein Tonbandgerät.

Das händigt sie mit aus.

 

2.Jug.:     Ich denk‘ wir geh‘n jetzt Essen?

Hat das nicht noch Zeit mit ihr?

Die sagt kein Wort!

1.Jug.:     Sie, gute Frau, wir woll‘n erst Essen gehen,

Danach geht es weiter!

2.Jug.:     Stumm wie ‘n Fisch. Die sagt kein Wort.

Was soll der Zettel. Nimm ihn mal.

1.Jug.       Nimmt den Zettel und liest vor.

                     Ich bin stumm, ich kann nichts sagen.

Aber auf dem Kasten ist ein Tonband,

Wie wir‘s früher hatten.

                     Darauf ist ein Interview.

         Ich bin nicht so modern, wie ihr.

Ihr habt Kristalle, weiß ich,

Darin speichert ihr die Welt.

Auf meinem Band. könnt ihr mich sprechen hören.

Außerdem Herrn F. und seine Frau.

Ihr könnt es hören wenn ihr wollt.

Ich geb‘ es euch. Als Unterschrift: Frau B.

 

Es kommen zwei Verkäuferinnen, die sehr attraktiv angezogen sind.

Auf ihrer Kleidung steht der Namenszug: „Supermarkt“.

Sie bringen Lunchpakete für alle.

 

1.Verk.:    Der Supermarkt lässt grüßen.

                     Supermarkt will einen Beitrag leisten.

2.Verk.:    Lunchpaket für jeden.

                     Supermarkt lässt grüßen. Nehmen Sie. Da, bitte.

 

Erwachsene und Jugendliche sind erfreut.

 

Erw.:        Danke, danke..

1.Jug.:     Das ist eine nette Geste.

                     Hunger hab‘ ich auch inzwischen.

2.Jug.:     Werbung, Werbung.

Ohne Werbung geht es nicht.

Kann uns auch ganz egal sein.

 

Die Verkäuferinnen bringen auch noch Getränke.

 

1.Jug.:     Find‘ ich toll von denen.

                     Danke. Gut, sogar Getränke!

2.Jug.:     Ganz umsonst. Das spenden die.

                     Wer weiß aus welchem Grund.

 

3.Jug. kommt auf die beiden zu.

 

3.Jug.:     Ihr denkt doch nur ans Fressen.

                     Ist für die doch nichts.

Das schreib‘n die ab.

Und ihr macht euch zu deren Fressgenossen,

Ich rühr‘ von dem Kram nichts an.

1.Jug.:     Was hast du denn?

 

3.:Jug. spuckt vor ihnen aus.

 

3.Jug.:     Verreck ich lieber.

                     Jedenfalls von denen nehm‘ ich nichts.

2.Jug.:     Ist mir egal, ich esse.

1.Jug.:     Weil du kein Gehirn hast.

2.Jug.:     Wirfst du denen vor, dass sie den Supermarkt

Da aufgebaut und eingerichtet haben,

Wo noch Lager war?

3.Jug.:     Das könnte sein.

1.Jug.:     Du spinnst.

Du gehst doch auch nicht los

Und reißt die Zäune ein

                     Bei all den Siedlungshäuschen die da steh’n,

Und die steh‘n ganz genau da, wo sie die

Gequält hab'n,

Wo so viele starben,

Wo sie die geschlagen haben!

3.Jug.:     Hab‘ euch doch gesagt,

                     Euch fehlt es an Gehirn.

 

3.Jug. geht. Ruft dann aber zurück:

 

3.Jug.:     Ich jedenfalls „gedenke“.

Ja, gedenke, jetzt. Mit meinem Hunger!

Wenn ihr mich versteht.

Mein Hunger soll mich dran erinnern,

Daran denken lassen.

Eure Sattheit ist zum Kotzen.

Aber macht nur weiter.

Irgendwann begreift ihr auch die Kleinigkeiten.

Widerlich,

Wenn man die Fresslust an euch sieht.

Die quillt euch aus den Augen!

Ekelhaft.

 

Einige, dann alle, legen zögernd ihr Lunchpaket beiseite.

Verkäuferinnen ab. Aus der Baracke kommen Insassinnen,

schlecht gekleidet, aber erstmals mit einem gelben Stern

auf der Kleidung. Sie sind dabei, die Baracke zu errichten.

2 Bewacherinnen, Jugendliche und Erwachsene fast ganz zurück.

Frau B. und ihre Schwester

(Schw. B.).

 

Frau B.:    Drei Männer und drei Frauen passen immer auf.

Bew‘in.:    Bewegt euch! Tut was! Lahme Schlampen!

Schw. B.: Insgesamt sind‘s über viermal hundert Frauen.

                     Fünfzig von den Häusern soll‘n sie bau‘n.

Frau B.:    Ob sich mal eine her traut?

Schw. B.: Nein, wir müssen ‘rüber.

Da, bei den Bewachern geht‘s,

Der sieht mit Absicht weg.

 

Die beiden Frauen gehen auf den Bew. zu, der sieht gelangweilt weg.

Sofort kommen die Insassinnen auf die Frauen zu

und reißen ihnen die Nahrung aus den Händen.

 

Ins.:         Danke…danke..

 

Die beiden Frauen gehen zurück.

 

Frau B.:    Die müssen schuften, bis sie tot sind..

Schw. B.: Müssen Heime schaffen,

                     Die sie selber nie beziehen werden.

Frau B.:    Und die einzieh‘n hängen ihre Augen

Drinnen an die Wand.

Die woll‘n von nichts was wissen.

Gucken nicht mehr raus.

Statt denen, die geholfen haben,

Auch zu helfen.

Schw. B.: Die hab‘n einfach Angst.

Die haben Angst, dass ihre Hilfe schaden könnte.

Frau B.:    Ihnen selbst natürlich.

 

Die Frauen ab. Herr und Frau F. kommen mit bequemen

Lehnstühlen heraus. Ein Tisch mit Kaffee und Kuchen.

Alles sehr gemütlich. 1. und 2.Jug. kommen mit dem

Tonbandgerät und stellen es auf.

 

1.Jug.:     Heute wohn‘ Sie beide noch

In einem dieser Plattenhäuser.

Stimmt das wirklich von den Frauen?

Haben die das aufgerichtet?

Und wie wohnt es sich darin,

Was für Gefühle haben Sie?

Was wussten Sie vom Lager nebenan?

Herr F.:    Wir kannten damals nur noch Trümmer.

Unser nacktes Leben hatten wir gerettet.

Sonst war alles weg, einfach weg.

Und hier bot man uns so ein Häuschen an.

Ich kann‘s nicht anders sagen:

Neuer Anfang, Neubeginn.

Wir fühlten uns wie neugeboren.

Viele brachte man hier unter.

Große Firmen leiteten den Bau der Häuser,

         Und es gab viel Eigenhilfe.

                     Das weißt du doch auch.

Frau F.:    Das stimmt.

2.Jug.:     Und über Juden, allgemein?

                     Was dachten Sie?

Herr F.:    Ich hatte meine eigenen Gedanken,

Und ich glaubte nicht, was man mir sagte.

Man traf überall auf Hass,

Der richtete sich gegen sie.

Man sagte so zum Beispiel,

Dass sie an den „Fäden“ zögen,

Ihre Finger hätten sie in jeder Sache,

Überall wär‘n sie mit drin.

Bevor man sie vertrieb,

War‘n sie als die Geschäftemacher

Und Besitzer aller Wäscherein und Schuhgeschäfte

Überall verschrien.

1.Jug.:     Verschrien? War das denn schlimm?

Herr F.:    Für viele war das Grund genug.

Sie wurden ja verfolgt,

Und fliehen konnten nur die wenigen mit Bargeld.

Selbst für die war‘s schwer.

Man machte Jagd auf die und die

                     Und fing sie alle ein. Das war so.

Überall wo sich ein Schwarzhemd blickenlassen konnte,

War das so.

         Nicht nur bei uns.

                     War überall so.

Frau F.:    Und die eingefang‘nen Juden sprachen doch

Oft unsre Sprache nicht.

Die kamen aus ganz andren Ländern.

                     Wenn man über die im Lager sprechen wollte,

Ging das nur im allerengsten Kreis.

Vielleicht in der Familie.

Aber manchmal war es sogar da nicht möglich.

Jeder Außenstehende stand im Verdacht,

Uns zu verdächtigen.

Und Leute, die gesessen hatten, gab‘s genug.

Das ging ruck zuck. Schon war man drin.

Und wenn man erst mal drin war, gute Nacht.

         Wer das nicht glauben wollte,

War ganz schlicht zu dumm.

Wir hätten nie mit den Insassinnen gesprochen.

Sprach man die mal an,

Nein, meistens war es umgekehrt,

Weil die ja bettelten,

Dann wurden sie misshandelt.

Schläge auf den Kopf und so.

Die mussten immer, immer arbeiten.

Das nahm kein Ende.

Ihre Häuser standen ja schon in zwei Straßen:

Kritenbarg und Pfefferminzkamp.

Das sind kleine Straßen. Gibt sie heute noch.

Die Häuser standen nur ein Jahr.

Nicht länger.

2.Jug.:     Bis auf dieses.

Das steht immer noch.

Herr F.:    Am Ende, als der Krieg zu Ende war,

Zog keine von den Frau‘n hier ein.

Sie hätten sich ja kleine Siegeshallen

Daraus machen können. Aber nichts.

Die Frauen waren plötzlich fort.

Wohin sie gingen, wohin sie entlassen wurden

Weiß kein Mensch.

                     Wir wissen nicht mal,

Frau F.:    Ob sie nicht am letzten Tag noch umgekommen sind.

Hier waren sie total verlassen.

2.Jug.:     Und das Lager war doch damals

Nicht zu überseh‘n.

Was wussten Sie davon?

Herr F.:    Mein Gott! Wir wussten nichts.

Vermutet, ja; vermutet hat man etwas;

Aber nur vermutet. Nichts Genaues.

                     Und das eine dürft ihr nicht vergessen,

Wir befanden uns genau wie diese Frauen

In der Fremde.

 

Es kommen Insassinnen heraus mit Lappen an den Füßen

und in Zementsäcken steckend.

 

Frau F.:    Uns ging‘s ganz schön besser.

Weißt du nicht,

Dass die in Eiseskälte mit dem Plunder an den Füßen

Ihre Arbeit machen mussten?

Kleider hatten die nicht an.

Die steckten in Papier!

Die steckten doch in Säcken vom Zement,

Die sind doch aus Papier.

Und darum zankten die sich noch.

Und schlafen mussten sie darin.

Ich hab‘s gesehen. Deren Haut war

Blank und grau wie Blei.

Es gab ja nicht mal Stroh.

Für die schon gar nicht.

Als sie alle fort war‘n,

Hab‘ ich mir das Ganze angesehen.

Hatten dort nur Pritschen. Mit nichts drauf.

Ganz schrecklich.

Nein, die kannst du wirklich nicht mit uns

Vergleichen.

Herr F.:    Einmal hab‘ ich selbst was eingefangen.

Weiß nicht mehr warum.

Die wollten mich „kassieren“.

Frau F.:    Das ist denen aber schlecht bekommen.

Hatten übersehen,

Dass du bei der Wehrmacht warst.

Da mussten sie ihn ganz schnell laufen lassen.

Wisst ihr, wenn man bei der Wehrmacht war,

War man geschützt.

Herr F.:    Die Frauen, also die Bewacherinnen, waren ganz brutal.

Die schlugen in der Eiseskälte zu.

Die schlugen einfach drauf.

Da tat sich mancher Sprödbruch auf,

         Und mancher neue Riss lief durch die Haut.

Frau F.:    Und morgens gab es nichts. So wie ich‘s sag‘.

Die mussten hoch.

Buchstäblich mit dem Hahnenschrei.

Appell, dann ab.

Und bis zum Dunkelwerden nichts als Arbeit.

Arbeit, Arbeit, Arbeit.

                     Harte Männerarbeit,

Darf man nicht vergessen.

Schwere Erdarbeiten.

1.Jug.:     Floh mal jemand? Gab es Flucht? Gab‘s das?

Frau F.:    Du meine Güte, Flucht.

An Flucht war nicht zu denken,

Wohin hätten die wohl fliehen sollen,

Oder können.

Nein, nein.

 

Ein Bewacher kommt auf Frau F. zu. Frau F spricht ihn an.

 

Frau F.:    Was sind denn das für Frauen?

Wissen Sie woher die kommen?

Bew’er.:    Alles bestens, alles bestens.

Kümmern Sie sich nicht darum.

Sie woll‘n doch nicht, dass man Sie abholt, oder?

Sehen Sie.

 

Bewacher geht zur Seite. Frau F. winkt drei Insassinnen zu.

Sie holt einen Topf und füllt nacheinander Suppe auf einen Teller.

 

Frau F.:    Zeit zum Löffeln gibt‘s da nicht.

Da war nichts mehr zu machen.

Ihre Suppe hab‘n die einfach weggeschluckt.

Das dauerte Sekunden.

Eine nach der anderen.

Ich konnte ja nicht alle füttern.

 

Die Insassinnen fliehen wieder zurück.

 

Frau F.:    Hier bei uns gab‘s etwa 150 Frauen.

Herr F.:    Ob auch Judenfrauen drunter waren?

Keine Ahnung.

Hätten wir nicht wissen können.

Die war‘n stationiert im Lager.

Das war kein KZ, das war ein Arbeitslager,

Wisst ihr.

Manchmal wurden welche abgeholt

Und andre kamen.

1.Jug.:     Wohin wurden die gebracht?

Herr F.:    Die mussten wohl nach Ochsenzoll, denk‘ ich.

Das ist nicht weit von hier.

Da ging‘s in die Fabrik.

Da schmiedeten sie Hülsen für Granaten,

Oder bauten Panzerketten.

Keiner wusste das genau.

Auch heut‘ noch nicht.

1.Jug.:     Wie kamen die dahin? Marschierten die dahin?

                     Wie ging das.

Herr F.:    Nein, die hatten eigene Waggons, ganz alte.

                     Von der Eisenbahn.

                     In jeden lud man bis zu fünfzig Frauen ein.

 

Inzwischen haben sich die Insassinnen formiert und

stehen schwankend auf ihren Füßen.

 

Frau F.:    Wir wissen nicht, ob alle wiederkamen.

                     Wenn die stehen, stehen sie auf wackeligen Beinen.

Herr F.:    Das kommt nicht von ihrer Fahrerei,

Das kommt von ihrer Schwäche.

Die sind doch nur noch Haut und Knochen.

                     Jeder sieht es: die sind nur Haut und Knochen.

 

Vier Insassinnen stürzen sich auf einen Abfallhaufen und streiten sich.

 

2.Jug.:     Was ist los?

Herr F.:    Wir müssen zuseh‘n, wie sie sich

                     Um Reste prügeln, zanken.

                     Denen ist doch alles gleich.

Die stürzen sich auf jeden Unrat, Mist und Abfall.

Alles wird durchwühlt.

Das ekelt alle an. Das ist ganz widerlich.

Dann gibt es einen Punkt,

An dem ist jeder abgestumpft.

Mal schreit die Wache.

Meistens ist es ihr egal.

Und wir Bewohner seh‘n schon nicht mehr hin.

Wir waren alle abgestumpft.

2.Jug.:     Hätt‘ man nicht helfen können, irgendwie?

Frau F.:    Es ging nicht, und es war verboten.

War uns doch verboten, was die sagten, galt.

Herr F.:    Dann gab‘s auch noch die Propaganda.

Die hat alles klargestellt.

Das war die Stimme „unsres Volkes“.

Jeder hörte zu.

Die Stimme ging zu Herzen.

Alles, was die sagte, glaubten wir.

 

Stimme aus dem Lautsprecher.

 

Lauts.:     Es handelt sich bei diesen Menschen

Nicht um Menschen!

Das sind keine Menschen!

Das sind Untermenschen!

Herr F.:    Und wir litten selber Not.

Man gab uns nur das Nötigste.

Das Volk erhielt nicht viel.

Wer aus der Wache stumpfe Pfeile machen wollte,

Lenkte deren Wut nur auf die Judenfrauen.

Hilfe war fast ausgeschlossen.

Manchmal stellten wir ganz einfach etwas

Auf die Straße.

Wenn die Frau‘n das nehmen wollten und sich bückten,

Schlug die Wache auf sie ein.

Wir haben die nie angesprochen.

Frau F.:    …die uns auch nicht.

Herr F.:    Waren ewig unter Wache. Nie alleine, nie allein.

 

 

1. Akt, 6. Bild. Der Kassenwart

 

Bühnenbild wie zuvor Es sind nur Jugendliche auf der Bühne.

3.Jug. kommt mit einer alten Ladenkasse angerannt, angeschleppt.

 

3.Jug.:     Seht mal was ich hab‘.

Die haben wir im Alstertal gefunden.

Ist kein bisschen Rost dran.

He, die funktioniert noch richtig!

 

3.Jug. stellt die Kasse mitten unter die anderen.

Unbemerkt von allen kommt von der Baracke her ein

Schwarzhemd langsam auf sie zu.

 

2.Jug.:     Und, was soll der Kram?

3.Jug.:     Du weißt nicht was drin steckt.

                     Drück auf die Taste.

                     Hau mal richtig drauf!

 

2.Jug. drückt kräftig auf die Taste. Die Kasse springt mit einem hellen

Glockenton auf.

 

2.Jug.:     Sieh nach! Sieh rein.

Da drinnen liegt ein Buch

Und bisschen Kleingeld.

Kuckuck! Kuckuck! Kuckuck!

         Hör doch auf.

Ein Buch? Tatsächlich!

Sind ja nur Belege.

Ah, hier ist ein Brief. Den meinst du?

‘ne Unterschrift.

3.Jug.:     Die Unterschrift vom Kassenwart.

                     Der hat den Brief geschrieben.

 

Die Jugendlichen erstarren nun.

Das Schwarzhemd steht vor ihnen und nimmt ihnen den Brief aus der Hand.

 

Schw.:      „Meine Kasse hab‘ ich abgeschlossen, abgerechnet.

Nichts blieb übrig,

Außer einem kleinen Manko.

Das lass ich so stehen wie es ist

Und in der Kasse liegen.

Ich bin Kassenwart, die Kasse stimmt.

Ich hatte nichts, als diese Kasse.

Diese Kasse war mein Ein und Alles.

Ich bin Kassenwart, die Kasse stimmt.

Im Arbeitslager Sasel gilt die Regelung:

Man hat mit den Insassinnen ganz pünktlich

Zu beginnen.

Arbeitszeit beginnt bei Sonnenaufgang,

Endet mit dem Sonnenuntergang.

Ich bin nur Kassenwart,

Ich achte nur auf diese Regelung,

Damit die Kasse stimmt.

         Als Arbeit haben alle Inhaftierten

Schwerstarbeit zu leisten, wie zum Beispiel

Trümmerräumen in der Innenstadt.

Dazu gehören Erdarbeiten für die Plattenhäuser

Vor den Toren unsrer Vaterstadt, in Sasel.

Ich bin Kassenwart. Zum Schluss soll meine Kasse

Stimmen.

Diese Stadt soll keiner dieser Frauen jemals

Stadt der Väter werden.

Dort am Pfefferminzkamp soll‘n sie graben,

Fundamente ziehen und beginnen.

Ich als Kassenwart, muss meine Augen

Auf sie richten, dass die Kasse stimmt.

So haben sie im Kettenwerk von Langenhorn

Zu schaffen und sind in der Produktion

Für Hülsen von Granaten und Kartuschen zu verwenden.

Ich, als Kassenwart, muss alle drängen,

Dass die Kasse stimmt.

Man hat die Frauen zu verbrauchen.

Sind erschöpfend zu verbrauchen.

         Soll‘n als erstes zu den Plattenhäusern

Schienen legen, dass sie darauf Loren schieben können.

Diese kleinen Wagen.

Das belastet meine Kasse sehr.

Denn ich, als Kassenwart, muss darauf achten,

Dass die Kasse schließlich stimmt.

                     Ihr fangt mit euren Schienen an.

         Am Bahnhof Poppenbüttel.

Wartet mir die Loren gut, und was kaputtgeht

Müsst ihr selber reparieren.

Denkt daran: ich bin der Kassenwart und sehe alles.

Weiter sind die Frauen für die Atemschutzfabrik

In Barmbek vorzusehen.

Gummimasken soll‘n sie da verkleben.

Das bringt viel für meine Kasse.

Das ist gut, denn ich bin Kassenwart

Und muss auf diese Dinge achten.

Außerdem sind Bombenopfer einzusammeln,

Aufzulisten und in Ohlsdorf zu begraben.

Diese Arbeit kann man uns‘re eignen Frauen

Nicht verrichten lassen, das wär‘ eine Schande.

Nicht nur für die Frauen.

Nein, das fiele aufs Regime zurück.

Beim Einsatz gibt es keinen Unterschied.

Nicht zwischen männlich, weiblich, krank, gesund.

Als Kassenwart muss ich auf alles achten.

Wer fragt später schon nach irgendeinem Grund?

Von mir will man doch nur das eine wissen,

Stimmt die Kasse?

Also sind die Inhaftierten völlig gleich zu setzen.

Sind einander gleichzusetzen!

Sonst ist jede Gleichheit zur Bevölkerung

Natürlich ausgesetzt.

         Und noch ein Punkt!

Bekleidung ist dem Ziel, den Häftling auszuschöpfen

Anzupassen, sie muss dürftig sein.

Auf Arbeitsschutz soll ganz verzichtet werden.

Das würd‘ meine Kasse auch nicht tragen können.

Ich, als Kassenwart, müsst‘ protestieren.

Schließlich soll die Kasse ja Gewinn ausweisen.

Das heißt das, wenn jemand sagt, wie ich,

Die Kasse stimmt. Und meine Kasse stimmt.

Es werden unverzichtbar Opfer

Unter ihnen sein.

Die soll man nicht beklagen

Sondern aus der Liste streichen.

                     So ist diese Regelung, die gilt für alle.

                     Es ist dabei gleich, ob es ein Unfall

         Bei den Loren ist, in der Fabrik,

                     Auch wenn es einfach Krankheit ist.

1.Jug.:     Die haben doch ein Totenbuch geführt.

Das liegt noch im Archiv.

Da wurden 35 einfach ausgestrichen.

2.Jug.:     Passt die Totenliste rein.

Du weißt doch. Die sie uns gegeben haben.

Schw.:      Für den Winter rechnen wir mit weiteren.

Die brauchen einzeln nicht erfasst zu werden.

2. Jug.:    Das sind Tiere!

Schw.:      Ich als Kassenwart, führ‘ nur die Kasse

Und die führ‘ ich richtig, dass sie stimmt.

Dabei beruf ich mich auf unsren

Schwarzhemdhauptverwaltungsleiter Pohl.

Von dem kommt der Befehl.

Den les‘ ich vor und leg‘ ihn als Beleg

In meine Kasse:

Die Entscheidung über alles liegt beim Lager.

Anvertraute Unvertraute sind erschöpfend zu verwenden

Und im wahrsten Sinn des Wortes zu verwerten,

Zu erschöpfen.

Höchstes Maß an Leistung ist im Lager zu erreichen.

Die Ernährung ist dem anzupassen,

Nicht, um noch Reserven anzulegen.

Keine Vorratshaltung.

Beispiel Sasel lässt sich gut verwenden.

Soweit der Befehl, soweit die Regelung.

Und nun zu meiner Kasse, dass man sieht,

Wie abgerechnet wird, wie schwer es ist

Ein Kassenwart zu sein,

Dass schließlich alles stimmt.

Mich wird man später fragen, mich, sonst keinen.

Lohn wird nicht gezahlt!

Nur so zahlt es sich aus.

Was übrig ist, wird abgeführt.

Ich bin da ganz genau.

Als Kassenwart wird man ja nicht gefragt,

                     Wie man geschlafen hat, und wie‘s so geht!

         Man will nur eines wissen, stimmt die Kasse?

Die Fabriken haben jeden Tag für jede Frau

Vier Mark zu zahlen. Die sind festgesetzt.

Das Geld erhalte ich, das geht in meine Kasse.

Was ich kriege, führ‘ ich ab.

In einem Monat könn‘n es 50.000 Mark sein.

Ja, bei fünfmal hundert Frauen.

Das ist Tagegeld. Das buche ich und führ‘ es ab.

Gewissenhaft. Denn ich bin Kassenwart.

So füllt sich unsre Kasse.

         Mit dem Geld verstärken wir die Kraft der

Wirtschaftsunternehmen, dieser und auch andrer Art.

Dazu gehören auch private Unternehmen.

Und die Väter unsrer Stadt.

Die messen mit demselben Maß.

Für mich als Kassenwart ist das nicht mehr so wichtig.

Weil ich nur die eine Sorge hab‘,

         Dass meine Kasse stimmt.

1 .Jug.:    Die Väter unsrer Stadt war‘n auch dabei?

2.Jug.:     Na klar, was denkst denn du.

                     Die haben den Gewinn gerochen.

1.Jug.:      Die, als Väter unsrer Stadt,

                     Vermaßen sich, mit diesem Maß zu messen?

2.Jug.:     Und gewannen dadurch.

1.Jug.:     Und verloren Unermessliches.

2.Jug.:     Was die verloren, war für die nicht messbar.

1.Jug.:     Und die nannten sich die Väter unsrer Stadt.

2.Jug.:     Die waren viel beschäftigt mit Verstoßen

                     Und Vermessen sein.

3.Jug.:     Die Groschen in der Kasse sind nichts wert.

1.Jug.:     Das kannst du so nicht sagen.

 

Sie nehmen das Geld heraus aus der Kasse und reichen es herum.

 

1.Jug.:     Seht euch doch das Geld an.

3.Jug.:     Diese Groschen sind ein Wert,

Den kann kein Mensch bezahlen.

Was der Kassenwart geschrieben hat, glaub‘ ich,

Ist echt und wahr.

1.Jug.:     Man wünschte, dass es nie Papier

Für diese Niederschrift hätt‘ geben müssen.

3.Jug.:     Welch ein Abgrund.

Jetzt sieht man ins Lager als in eine

Wechselstube, die das Blut direkt

In Groschen tauschte.

 

 

2. Akt, 1.Bild. Verkehrte Welt

 

Ein Klassenraum mit drei Gruppen: Die Insassinnen,

die Bewacherinnen, die Erwachsenen aus Sasel.

Davor die Jugendlichen.

 

Frau K.:    Damals hofften alle auf das Ende.

                     Irgendwie ein Ende.

Alle dachten so.

Und jeder dachte so auf seine Weise.

Man versprach sich ungeheure Dinge,

                     Wenn das Ende kommen würde.

Endlich würd‘ man wieder Seife haben.

Bew’in.:    Die Bevölkerung sah uns mit schiefen Augen an.

                     Wir taten auch nur unsre Pflicht.

Frau K.:    Von Ihnen wussten wir doch gar nichts.

Die da drüben. Denen ging es wirklich schlecht.

Das Ende dieses Krieges

                     War noch lange nicht das Ende,

Und der Anfang dieses Endes

War für viele noch das Ende.

In den letzten Tagen brachte man von denen

Wieder welche weg nach Bergen-Belsen.

Bew'in.:    Ist doch alles Unsinn!

Frau K.:    Woll‘n Sie etwa leugnen?

1.Ins.:      In den letzten Tagen flohen einige von uns.

                     Die brachen einfach aus.

Bew’in.:    Das hätten die doch nie geschafft.

Frau K.:    Das wissen alle noch.

 

Es treten mehrere Insassinnen auf, zusammengepfercht

von zwei Bewacherinnen.

Ein Polizist stellt sich ihnen in den Weg.

 

Pol.:         Wo soll‘n denn die noch hin?

Bew’in.:    Die werden überführt.

Pol.:         Dann muss ich die Papiere sehen.

                     Gibt's Papiere?

Bew’in.:    Jetzt Papiere? Mann, wo leb‘n Sie denn.

                     Wir haben Krieg!

Pol.:         Natürlich, hab‘ ich mir gedacht.

 

Einige der Insassinnen brechen in diesem Augenblick

aus und können fliehen. Der Polizist tut nichts.

 

Bew’in.:    Sie sind verrückt!

Wohl wahnsinnig geworden?

Die hau‘n ab! Die fliehen! Sie, die fliehen doch!

 

Gruppen wieder ab.

 

Frau K.:    Der Polizist wird später

                     Von der englischen Besatzungsmacht verurteilt.

         Das verstand kein Mensch.

                     Wir fragten alle nach den Gründen.

         Niemand konnte das verstehen.

 

Aus der Gruppe der Bewacherinnen springt eine auf

und beginnt einer der Insassinnen die Lumpen vom Leib zu reißen.

Ihre eigene Kleidung wirft sie der vor die Füße.

Sie zieht die Lumpen an.

 

Frau K.:    Das ist typisch.

Denen sitzt die Angst im Nacken. Die flieht sicher.

Die Besatzungsmacht soll kommen.

Na, die fängt sie sicher wieder ein.

Wir haben einige von ihnen aus der „Alten Mühle“

Rausgeholt.

Bew’in.:    Zieh‘ die Klamotten aus! Gib her.

Kriegst meine Sachen. Los beei‘l dich, mach schon zu.

Gib her. Na gib schon! Gib schon her!

 

Bew’in. flieht. Insassin hängt sich die Kleidung über.

 

Frau K.:    Das Frühjahr war vier Wochen alt....

2.Ins.:      Ich weiß, und trotzdem weiß ich nichts...

Frau K.:    Es war genau vier Wochen alt,

Da starben in dem Lager etliche der Frauen.

Das fiel auf.

Wir Saseler vermuteten, dass man sie tötete.

Warum? Wenn sie‘s nicht weiß, nicht sagt...

Vielleicht, weil sie von allem zu viel wussten.

Herr N.:    Also, ich muss auch mal etwas sagen:

Damals war ich grade 15 Jahre alt.

Für mich war diese Zeit die größte meines Lebens.

Ich war in der Hitlerjugend. Mit Begeisterung!

Das geb‘ ich zu.

Ich müsste lügen,

Wenn es nicht die Wahrheit wäre.

Damals war ich wirklich voll Begeisterung.

Das war natürlich vor dem Ende.

Ich hab‘ miterlebt, wie die Besatzungsmacht

Die Lagertore aufschlug.

Drinnen gab es plötzlich

Keine einzige Bewacherin.

Die waren wie verschluckt.

Die waren in ein Nichts verschwunden.

Ein paar Wachen war‘n noch da.

Das war auch alles. Außer den Insassinnen natürlich.

Die erzählten nichts.

Die Flak war abmontiert. Das sah ich gleich.

Ich kam von der Marine.

Die Besatzung, die die Tore öffnen sollte,

Hatte keine Ahnung.

Da war nur so etwas wie Verdacht gewesen:

„Irgendetwas soll in Sasel sein“.

Die wussten gar nichts, als sie vor dem Lager standen.

         Stacheldraht, der um das Lager lief,

War voll mit den Gefangenen.

Die hingen drin und rissen an dem Gitter.

 

Die lnsassinnen schreien:

 

Ins.:         Wir sind frei, frei, frei!

 

Herr N.:    Es war so paradox.

Sie kamen noch nicht frei,

Weil niemand einen Schlüssel hatte.

Frau K.:    Wir in Sasel hörten ihre Schreie.

Wir erstarrten. Diese Schreie wird‘ ich nie

Vergessen.

Die bring‘n alle um.

                     Das war das erste, was ich dachte.

Die komm‘n raus und bringen alle um.

Wir hatten plötzlich Angst. Natürlich.

War doch klar.

Herr N.:    Dann haben die das Tor

                     Gewaltsam aufgemacht.

                     Man kann sich das nicht vorstell‘n.

Ins.:         Tommys, Tommys, Tommys! ! !

                     Wir sind frei, frei, frei! !

Herr N.:    Keiner hätte sie zur Ruhe bringen können.

                     Die verliefen sich sofort in Sasel.

Frau K.:    Ach, was, dummes Zeug.

Die wussten gleich, wohin sie wollten.

Zur Fabrik. Natürlich zur Fabrik.

Da standen doch die Marmeladenfässer.

Die zerrissen sie. Die hab‘n sie aufgerissen!

Ihre Gier nach Süße.

Ja, die hungerten nach Süße.

Das war‘n Judenfrauen, Polinnen

Und auch Zigeunerinnen.

Herr N.:    Na, das weiß ich nicht.

Man fing sie alle wieder ein.

Die mussten medizinische Versorgung kriegen.

Erst paar Tage später wurd‘ das Lager

Offiziell befreit und aufgeschlossen.

Frau K.:    Uns‘re ganze Gegend fürchtete ein Chaos.

Herr N.:    Die Soldaten auch.

Frau K.:    Es kamen Angehörige aus Auschwitz,

Buchenwald und andren Lagern,

Um die Frauen abzuholen...

1.Ins.:      Das betraf nur ganz, ganz wenige.

Wir andren mussten betteln gehen.

Eine Frau, die das Dilemma sah,

Rief eine Kleidersammlung

         Unter der Bevölkerung ins Leben.

                     Ja, organisierte so was einfach.

2.Ins.:      Andre schimpften über uns!

                    „Jetzt komm‘n sie wieder stehlen, betteln.

                     Das Zigeunerpack“.

                     Wir haben dann vor denen

 

Sie zieht ihr Kleid, aus, so dass man Striemen auf ihrem Körper sieht.

 

2.Ins.:      Uns‘re Kleider ausgezogen.

Das ging schnell. Ruck zuck.

Dann konnten sie die Striemen sehen,

Die wir überall am Körper hatten.

 

Sie zieht das Kleid wieder an.

 

Herr N.:    Viele von den Frauen

Taten sich zusammen.

Damals hatten wir Soldaten aufgenommen,

Zwei, soviel ich weiß.

Wir waren grade drüben in der Tannenschonung,

Um ein bisschen Holz zu suchen.

Plötzlich tauchten Frauen auf.

Zwei Schwärme. Dann noch einer.

Jeweils 5o oder 6o Frauen.

Alle schlichen auf die Sportbaracke zu.

Die kamen Richtung „Alte Mühle",

„Redder Mellingburg“.

Dann sah‘n wir, wie Bewacherinnen

Aus den Fenstern kletterten

Und fliehen wollten.

Draußen war‘n sie schnell,

Doch dann entdeckten sie,

Dass an Entkommen nicht zu denken war.

Zurück ging‘s auch nicht.

Blitzschnell war‘n die Frauen da.

An denen wollten sie natürlich

Ihre ungeheure Wut auslassen.

Nur an einer nicht.

Die hielten sie in einem kleinen Kreis geschützt.

Den andren rissen sie die Haare aus.

Dann kam auch schon ein Jeep.

Der konnte alles Schlimmere verhindern.

Der lud die Bewacherinnen auf

Und fuhr mit ihnen weg.

Da mussten die ihr Strafgericht beenden.

2.Ins.:      Weil die Tommys sich zu falschen Rettern machten.

Herr N.:    Schon nach 14 Tagen hieß es:

„Alles ist gelaufen“.

Drüben war kein Mensch im Lager mehr.

Was brennen konnte, wurde abgebrannt.

Wir staunten lange über die Bewacherinnen,

Dass die doch so wenig klug gewesen waren,

Dass sie sich so nah beim Lager

Ein Versteck erhofften.

                     Wir in Sasel,

Ich seh‘ ab von ganz, ganz wenigen,

                     Sind nicht in der Partei gewesen.

Alle war‘n verschrien als „Sozis“

Und als Kommunisten.

Immer wieder hieß es:

„Halt den Mund und schweige.

Schweige, wenn du nicht für immer schweigen willst.

Die hol‘n dich sonst."

Vom Lager hab‘n die meisten nichts gewusst.

2.Ins.:      Oh Gott, wie soll man das ertragen.

Herr N.:    Außerdem war ich ja damals Pimpf.

War in der Hitlerjugend.

Ich war richtig überzeugt.

Man muss versuchen sich das vorzustellen:

Ich war das, was man das Bild von einem

Hitlerjungen nannte.

Blond, mit blauen Augen,

Scheitel auf der linken Seite,

Fröhlich, aufrecht.

Wie aus einem Bilderbuch.

Ich dachte damals, als ich Pimpf war,

Über die KZ‘s:

Die haben ihre Ordnung,

Und die haben ihren Sinn.

Da sitzen nur die Minderwertigen,

Die Arbeitsscheuen und die falschen Rassen.

Ich sang gut und war in Hitlerjugendchor.

Zwei Jahre zog ich an die Front

Zu den Soldaten und in Lazarette.

„Um die Herzen zu erfreuen und zu stärken“.

Was wir sangen?

Na, am liebsten Lieder von „Blutroter Sonne,

Die im Lande aufging“.

Nach dem Singen trat ich auf,

Sprach ein Gedicht.

Das stand total im Gegensatz zu dem,

Was ich Zuhause sah,

Nein, hätte sehen müssen und nicht sah

Und auch nicht übersah.

         In Wahrheit zeigten wir mit unsren Liedern

Die verkehrte Welt,

Die ganz verkehrte Seite.

Leider hab‘ ich nie darüber nachgedacht.

Nein, leider.

 

Die Insassinnen, Bewacherinnen und Erwachsenen erstarren zu Figuren.

 

1.Jug.:     So wie die erzählen und berichten..

2.Jug.:     N. hat nie darüber nachgedacht!

3.Jug.:     Bestimmt auch heut‘ noch nicht.

1.Jug.:     Der denkt nur noch an damals, damals, damals.

                     Wenn ich das schon höre...

2.Jug.:     Ist so schlimm, als wenn mein Vater sagt:

                     „Als ich in deinem Alter war..“

1.Jug.:     Und meine Mutter:

                     „Wir sind auch mal jung gewesen. Damals mussten wir..“

2.Jug.:     Die mit ihren Damals.

Das entschuldigt alles.

Hast ganz recht.

3.Jug.:     Das Damals ist und bleibt für die ein Stolperstein.

Ein ganz verfluchter Stolperstein.

Die kommen nicht darüber weg.

1.Jug.:     So, wie die das machen,

Wie die das erzählen,

Machen sie die Lebenden zu Toten.

2.Jug.:     Ja, sich selbst.

                     Sie nehmen sich nicht aus.

1.Jug.:     Und merken es noch nicht einmal,

3.Jug.:     Bezieh‘n sich gleich mit ein.

Ich meine, was ist eine Zukunft,

Wenn es keine Hoffnung, keine Liebe,

Keinen Glauben darin gibt.

Und die, die hab‘n doch nicht ein Fünkchen Hoffnung.

Denken auch darüber überhaupt nicht nach.

1.Jug.:     Die eine denkt an Seife.

2.Jug.:     Toll. Genau. Die denkt an Seife.

3.Jug.:     Zeigen keine Liebe.

Nicht zu sich, nicht zu den and‘ren, nichts.

Von Liebe keine Spur.

1.Jug.:     Die hatt es sicher auch gegeben.

3.Jug.:     Die erzählen aber nichts davon.

Dann ist sie denen auch nicht wichtig.

Keine Liebe!

Stellt euch das bloß vor.

Und seht sie an.

Die sind doch wie versteinert.

1.Jug.:     Das ist ungerecht.

Denk‘ an die Frau‘n im Lager.

Denen blieb doch wirklich keine Wahl.

3.Jug.:     Vom Glauben will ich gar nicht reden.

Aber keine hat davon erzählt.

Die Sas‘ler nicht, nicht die Bewacherinnen,

Und nicht eine der Insassinnen.

1.Jug.:     Die hatten keine Wahl.

3.Jug.:     Mir wär‘s ein Trost zu wissen,

Dass man mit dem Glauben sterben kann.

Ich hätt' das gern‘ gehört,

Ihr sitzt nur da,

Und haltet euch die fette Plauze.

Aber wisst ihr denn, was uns noch blüht?!

 

 

2. Akt, 2. Bild. Sulejkas Tod

 

Der Klassenraum. 3. Jugendlicher tritt auf.

 

3.Jug.:     Immer wieder gibt es Leute,

Die in Listen leben.

Heute mehr denn je.

Vielleicht gehör‘ ich auch zu denen.

Immer wieder gibt es Leute,

Die das Leben andrer durch die Siebe gießen

Und den Rest betrachten.

Den vermerken sie,

Und sie vermerken so wie hier,

Die Grausamkeiten, sehen auf das Massenelend.

Sehen auf die vielen, vielen, vielen...

Schwer ist es, ja fast unmöglich,

Nur ein Einzelschicksal zu erfassen.

Stimmen hörten wir, nichts weiter.

Alles Stimmen, die wir hörten.

Weiter nichts als Echos, die uns trafen.

Wir sind junge Hörer. Ich bin jung.

Ich habe damals, wieder damals,...

Ich hab‘ in der Zeit noch nicht gelebt,

Verdammt noch mal.

Ich will es wissen.

Ich erfahre nichts. Das ist doch nur

Gewäsch, ist alles wischi waschi.

Jeder dreht dem anderen das Wort im Mund herum.

Die wissen nicht mal mehr,

Was die Insassinnen getragen haben.

War‘n sie nun in Lumpen, Decken, Sträflingskleidung?

Trugen sie den gelben Stern?

         Wie war das mit der Nummer auf der Kleidung.

Einer sagt, die hatten Holzpantinen an,

Die andren sagen, dass sie

Lappen um die Füße wickeln mussten.

Was ist wahr, was soll ich glauben.

Und die Ruferinnen selbst,

Die Frauen, die im Lager saßen, bleiben ungehört.

Von denen, was sie sagten, was sie dachten,

Wird doch nichts erzählt.

Nur, was die Sas‘ler dachten,

Und die dachten doch zuerst an sich,

Na klar, die dachten erst mal an sich selbst.

Und wenn sie sich erinnern,

Dann an das Geschrei des Nachts,

Ans Schreien unter kalten Duschen,

An die Hungerschreie,

An die Schreie: „Wir sind frei, sind frei, sind frei!

Ich denke an die stummen Namensschreie,

Die man höchstens in den Friedhofslisten Bergstedts

Findet.

         Was ich meine, was ich nicht verstehen kann:

Muss jede Suche nach dem Einzelschicksal

So verebben?

Handelte es sich selbst hier in Sasel

Nicht um eine Flut,

Die nur aus Einzelschicksalen bestand?

Die kleine Frau aus Frankreich

Hat sich später wirklich bei Frau E. bedankt.

Ja, Seife hat sie auch bekommen.

 

Frau E tritt auf. Sie hat Häftlingskleider an.

 

Frau E.:    Ich heiße E. Frau E.

Ich habe mit der andren nichts zu tun.

Ein Einzelschicksal will er haben.

Schöne Worte. Meinetwegen.

Einzelschicksal.

Steh‘n zu Tausenden in tausend Protokollen.

Kann ihn ja verstehen. Ja ich spüre, was die wollen.

Könn‘n doch nicht begreifen,

Wie man überhaupt nach Sasel kam. Ins Lager.

Wie das zuging. Ja, das woll‘n die wissen,

Das ist dann ein Einzelschicksal.

Außerdem hat mich bis jetzt kein Mensch gefragt.

Mein Einzelschicksal war nicht wert genug.

Ich leb‘ ja noch.

Vielleicht gabt s auch zu viele andere. Natürlich.

                     Hab‘ mein Leben noch. Bin lebend da herausgekommen.

         Nein, mein Leben steht in keinem Protokoll.

Nicht mal mein Name: E.

Wie viele heißen E.

Das könn‘n die jungen Leute gar nicht wissen.

Könn‘n sie nicht, woher auch.

Ich bin die, die noch in einem, in dem letzten dieser

Plattenhäuser, wohnt.

         Ich bin geblieben. Alle andren...

Weiß nicht... weg, nur weg vielleicht..

Weit weg.

Australien, nach Amerika, Jerusalem und Frankreich.

Alle dachten damals doch nur

Raus und weg von hier.

Ich war die einzige die bleiben wollte

Und die blieb.

Berlin. Ja, angefangen hat es in Berlin.

Man hat mich einfach festgenommen,

Als Zigeunerin verschleppt.

Das war Verschleppung! Ab nach Ravensbrück.

Gleich ins KZ.

Da kriegten wir Kommando: Straßenarbeit.

Will ich nicht erzählen.

Will was anderes erzählen.

Im KZ traf ich auf meine eigene Kusine.

 

Es tritt eine junge schöne, schwangere Frau auf.

 

Frau E.:    Sulejka, du bist hier? Mein Gott!

Du kriegst ein Kind?

In diesem Zustand hier?

Die Kusine weint sofort.

 

Ein Bewacher stürzt herein und reißt die junge Frau zurück.

 

Kus.:        Das war‘n die hier...! Die Sch..

Frau E.:    Mein Gott, sei still!

 

Der Bewacher schlägt auf die Kusine ein. Bew‘er. und Kusine. ab.

 

Frau E.:    Sulejka war ein wunderschönes Mädchen.

 

Der Bewacher kommt zurück.

 

Bew‘er.:    Bist noch da?

 

Der Bewacher. grapscht ihren Körper ab.

 

Bew‘er.:    Nicht schlecht, Wir suchen sowas.

Kannst Modell für unsren Häuptling werden.

Kommst hier raus.

                     Mach dich ‘n bisschen hübsch.

Ich komm‘ gleich wieder.

Bring‘ dann jemand mit.

Dann wird Appell gemacht.

Wir brauchen viele.

Könnt uns zeigen, was ihr bieten könnt.

 

Bewacher geht.

 

Frau E.:    Modell! Für die.

Ich weiß Bescheid.

Die brauchen Weiber fürs Bordell

Und weiter nichts.

Mit mir macht ihr das nicht!

 

Frau E. besudelt sich hastig mit Dreck, Abfall, Asche.

Dann kommen drei Bew’er. zurück.

 

1.Bew’er.: Wo sind denn nun die Weiber.

 

Frau E. springt hoch.

 

Frau E.:        Hier. Ich möchte mit! Freiwillig.

                        Weiß doch, was ihr wollt.

2.Bew’er:.    Dir tret ich doch..

 

2. Bewacher läuft auf sie zu.

 

1.Bew‘er.:    Vergiss die. Widerliches Miststück.

  Wo sind denn die anderen.

Frau E.:        Ich möchte mit. Freiwillig.

  Ich hab‘ noch Figur!

2.Bew‘er.:    Hau ab, du alte Drecksau!

 

Er trifft sie mit dem Fuß, dass sie in die Ecke fliegt. Bewacher und alle ab.

Frau E. steht auf und reinigt sich wieder.

 

Frau E.:    Das war meine Rettung.

So hatt' ich mir das gewünscht.

Die andren dachten, das ist nicht so schlimm.

Die haben insgesamt 5oo Frauen ausgesucht.

Sulejka war bei denen nicht dabei.

Von all den Frauen kamen zwei zurück.

Ich hatte ja gedacht,

Die andren müssten für „die hohen Tiere" ins Bordell,

Totaler Schwachsinn.

War zu dumm. Ich konnte es nicht besser,

Nein, nicht schlechter wissen.

                     Hätten sowieso nicht eine vom KZ genommen.

Hab‘n sie alle totgespritzt.

Ganz einfach totgespritzt.

In unsrem Lager. Einfach so.

Mit Waschbenzin.

Man spritzte sie mit Waschbenzin zu Tode.

 

Pause.

 

Frau E.:    Sulejka kam mir aus den Augen.

                     Blieb in Ravensbrück.

Ich kam ins Arbeitslager Barth. In Pommern.

Von Sulejka konnte ich natürlich nichts erfahren.

Die hab‘n mir gleich beigebracht zu nieten.

Flugzeugteile mussten wir vernieten.

Alles war so schlimm.

Man durfte nicht den kleinsten Fehler machen.

 

Ein Bewacher kommt mit zwei jungen Mädchen auf sie zu.

Die Mädchen sind vielleicht 14 oder 15 Jahre alt. Bewacher zu Frau E.

 

Bew‘er.: Lass dir das eine Lehre sein.

                     Für deine Arbeit. Die sind Saboteure.

 

Die Mädchen sind völlig leer und starr.

 

Bew‘er.: Hab‘n ihr Werkzeug eingenietet.

                     Stellt euch rüber an die Wand!

 

Bewacher legt mit dem Gewehr an und erschießt sie schnell nacheinander.

Bewacher ab.

 

Frau E.:    Das war‘n ganz junge Dinger.

14 oder 15. Und von Sabotage hatten die

Nie was gehört.

         Sie waren einfach überfordert, hatten sich versehn..

Schon war‘s passiert.

Die sind am selben Tag erschossen worden.

 

Frau E. schluchzt und weint.

 

Frau E.:    Dann ging‘s wieder ab. Nach Langenhorn.

Ins Kettenwerk.

Dazwischen lagen andere Transporte. Grauenhaft!

Einzelschicksal! Welches, meines?

Das der anderen, der Toten?

Grausam waren die Transporte. Grausam.

Nein, es gibt kein Wort dafür.

Ich werd‘ davon nicht viel erzählen,

Soviel nur:

Es hieß, steigt ein. Ihr fahrt paar Stunden.

Die Bewacher pferchten alle in den Zug.

Von außen wurde abgeschlossen.

Dann ließ man uns reisen.

Reisen nicht, wir wurden transportiert.

Wir waren manchmal wochenlang in den Waggons.

Die Wagen wurden zwischendurch

Nicht aufgeschlossen.

Nichts passierte, nichts.

Wir standen, reisten, hielten uns,

Wir fuhren, standen wieder still.

Die Toten lagen unter uns.

Wir ließen sie am Boden liegen.

Unsren eigenen Urin vor Durst...

Wir tranken unsren eigenen Urin

Und aßen Fleisch...

 

Frau E. muss sich übergeben.

 

Frau E.:    Wir aßen Fleisch, das wir in Fetzen

Von den Körpern der Verstorb‘nen rissen.

Einzelschicksal!

Was zählt da ein Einzelschicksal?

Nichts, nichts, nichts.

Die Leichen blieben später einfach im Waggon.

 

Pause

 

Frau E.:    Von Langenhorn nach Sasel war‘s ein Katzensprung.

Für Hamburg war‘n es Orte vor der Stadt.

In Sasel traf ich auf Sulejka.

 

Sulejka kommt herein gewankt. Sie bricht zusammen.

 

Sul.:         Vergewaltigt... von den Wachen...

...Kind ist tot... da drüben… liegt in Dreck..

...Mutti, weißt du was von ihr..?

 

Sulejka stirbt.

 

Frau E.:    Sie starb bevor ich etwas sagen konnte.

Ihre Mutter war schon tot; schon lange.

Hatte man schon vor ihr umgebracht.

In ihrer Faust fand ich noch einen Zettel.

 

Frau E. nimmt aus Sulejkas Faust einen Zettel und liest.

 

Frau E.:    „Liebe Mutti...“

Weiter nichts? Nein, weiter nichts.

War auch ein Einzelschicksal.

Und? Was ist geblieben?

Sie wurd‘ richtig beigesetzt, beerdigt.

Bergstedt glaub' ich, heißt der Friedhof.

Starb so nah am Ende.

Gleich danach brach man die Türen auf.

Wir waren tausend Frauen.

Alle hatten an den Plattenhäusern

Bauen müssen.

Ach, noch kurz vorm Ende…

 

Eine Bewacherin kommt herein gestürmt und reißt ihr die Häftlingskleidung von Leib.

 

Bew’in.:    Gib die Sachen! Schnell, mach zu gib her.

                    Zieh meine an! Ruck zuck!

 

Bewacherin läuft mit den Häftlingskleidern davon. Frau E. hängt sich die Sachen um.

 

Frau E.:    Die waren plötzlich alle weg. Gefloh‘n.

Es kamen Zollbeamte.

Die war‘n nett und freundlich.

Später wurde alles abgebrannt.

Das machte die Besatzungsmacht.

Das „Rote Kreuz“ war hier und schaffte viele

In die Heimat.

 

Pause.

 

Frau E.:    Einzelschicksal.

Nein, ich weiß nicht, was das ist.

Ein Einzelschicksal gab es nicht,

Ich könnte keins erzählen, wirklich nicht.

Ein Einzelschicksal gab es nicht, nicht eines.

Niemand konnte mehr von einem Einzelschicksal reden.

 

 

2. Akt, 3. Bild. Singsang

 

Der Klassenraum. Frau U. tritt auf.

Im Hintergrund die rhythmischen Geräusche schwerer Stanzmaschinen.

 

Frau U.:    Heute bin ich Lehrerin.

Als alles für mich anfing,

War ich noch Studentin.

 

Frau U. nimmt, wie im 1. Akt, 1. Bild, ihr

Kopftuch ab und ist nun ein junges Mädchen.

 

Frau U.:    Meine Liebe war das erste Opfer.

Niemand konnt‘ mir später sagen,

Was aus ihm geworden war.

Ich war in großer Not, in Liebesnot,

Weil die mich holten.

Uni. konnte ich vergessen. Nichts da.

Die Studiererei! Ein Witz!

Mein neues Wissen steckte in der

Munitionsfabrik.

Ich musste mich entscheiden zwischen

Schaffnerin auf einer Straßenbahn

Und der Fabrik.

Ich habe mich entschieden.

Auf der Straßenbahn zu fahren traute ich mich nicht.

Vor jedem Bombenangriff hab‘ ich Angst gehabt.

Die müsst ich auf der Straßenbahn

Spazierenfahren.

Nein, da geh ich lieber in die Produktion

Nach Ochsenzoll. Gleich neben Langenhorn.

Ich leiste Kriegseinsatz im Kettenwerk.

Die riesigen Maschinen reichen bis zur Decke,

Seh‘n wie richtige Gebärmaschinen aus.

Die hab‘n die Beine breitgestellt,

Man sieht in ihre Schöße,

Und sie spucken ohne Unterbrechung

Ihre Hülsen für Granaten aus.

Das hört und hört nicht auf.

Gebärmaschinen. Riesige Gebärmaschinen.

Die gebären die Verpackung für den Tod.

Wir Frauen, Mädchen,

Müssen uns daran zu schaffen machen.

Mädchen, Frauen sind wir nicht.

Zwölf Wochen lang

Bin ich geschult und angewiesen worden.

Die da drinnen sind Gefangene.

Mit denen durften wir kein Wörtchen wechseln.

Wir vermessen Hülsen, Hülsen für Granaten.

Immer nur die Hülsen.

 

Es taucht eine Bewacherin auf. Hinter ihr erscheinen

einige junge Frauen, die sich auf Hocker setzen und Hülsen vermessen.

 

Frau U.:    Anfangs ist der Lärm fast schmerzhaft,

                     Dann gewöhnt man sich daran.

 

Der Lärm wird leiser und stört nicht mehr.

Frau U. geht auf einen der Hocker zu.

 

Frau U.:    Ich kenn‘ mich überhaupt nicht aus.

                     Den andren Frauen gegenüber schäm ich mich.

                     Ich glaube das sind alles Jüdinnen.

Die soll‘n aus Sasel kommen.

Wohn‘n hier aber in Baracken.

Dürfen das Gelände nicht verlassen.

 

Die Frauen sind relativ gut angezogen und nicht verwahrlost.

 

Bew’in.:    Merkt euch:

Jede, die hier quatscht,

Wird abgeführt.

Ihr kommt vors Kriegsgericht!

Es darf kein Häftling mit Zivilpersonen reden.

U. du bist gemeint.

Das gilt auch umgekehrt.

Mach deine Arbeit.

Rede nicht mit den Gefangenen.

Mach deine Arbeit und sonst nichts.

 

Die Bewacherin wendet sich etwas ab.

Das weitere Gespräch findet nun als Singsang

zwischen den Gefangenen und Frau U statt.

 

1.Häft.:    Ich wär‘ froh, wenn ich als Zivilistin…

2.Häft.:    Könntest mir was bringen…

1.Häft.:    Was würd’st du dir wünschen…

                     Brauchtest es mir nur zu sagen.

2.Häft.:    Würdest du als Zivilistin eine Kleinigkeit

                     Von draußen mit zur Arbeit bringen?

1.Häft.:    Würd‘ ich machen.

                     Würd‘ bei dir ja niemand merken.

2.Häft.:    Nein, es würde niemand merken.

                     Was man so als Zivilistin bei sich hätte,

Würde man als Zivilistin

Auch behalten dürfen.

1.Häft.:    Die Kontrolle würde höchstens,

Nach der Arbeit, fragen, wo die Sachen sind.

Das wäre gar nicht schlimm.

2.Häft.:    Für eine Zivilistin wär‘ das leicht.

Die brauchte nur zu sagen:

Ach, das war nichts wert,

Das hab‘ ich wohl verloren oder liegenlassen,

Morgen Abend zeig‘ ich‘s vor.

1.Häft.:    Sie könnt‘ auch sagen:

                     Wenn Sie‘s finden,

                     Sagen Sie mir dann Bescheid?

2.Häft.:    Als Zivilistin könnte man das machen.

 

Pause.

 

1.Häft.:    Was wir dringend brauchten,

                     Wäre etwas Band...

2.Häft.:    Und Gummiband..

                     Und eins, zwei, kleine Löffel...

1.Häft.:    Und ein klitzekleines Stückchen Seife..

2.Häft.:    Brauchte nur ganz klein zu sein...

 

Frau U. antwortet auch im Singsang.

 

Frau U.:    Ich werd‘ mich umseh'n.

Werde dann die Sachen beim Hinausgeh'n

Einfach fallen lassen.

Achtet drauf und bückt euch schnell,

Und hebt es auf, so schnell es geht.

 

Pause.

 

Frau U.:    Ich sehe auch, dass Männer,

Die an den Maschinen sitzen,

Aus den Abfallresten

Scharfe Messer schleifen.

Jedes Mal, wenn ich vorübergehe,

Hab‘ ich Angst. Die soll‘n mir ihre Messer

Nicht mehr zeigen.

2.Häft.:    Das ist kein Problem.

Ist schon erledigt.

Die hab‘n nur getestet,

Ob du auch kein Spitzel bist.

Die lassen das, die lassen das,

Die lassen das.

Bew’in.:    Hört mit den Singen auf. Das kann ich nicht

                     Ertragen.

Wenn ihr wenigstens vom Singen

Eine Ahnung hättet.

Seid jetzt still und messt genau!

Sonst kommt ihr noch vors Kriegsgericht.

Frau U.:    Ich bin sehr froh, ich bin sehr froh,

                     Dass ihr nichts Schlechtes von mir denkt.

2.Häft.:    Das tun wir nicht, das tun wir nicht.

Viel besser bist du auch nicht dran.

Dich hat doch auch kein Mensch gefragt,

         Ob du hier herwillst.

„Hat das Fräulein Doktor etwas Zeit

Fürs Vaterland? Wir brauchen jemanden wie Sie,

Die Hülsen für Granaten zu vermessen.

Aber nur, wenn‘s Sie nicht stört.

Ich küsse Ihre Hand, mein Fräulein Doktor“.

1.Häft.:    ‘nen Tritt ins Hinterteil

Wird sie bekommen haben:

„Hier geht‘s lang, zack, zack!“

Frau U.:    Das stimmt, das stimmt!

                     Man hat mich einfach weggeholt.

2.Häft.:    Du hast auch nichts von deinem Freund gehört?

Wir wissen ganz genau Bescheid.

Das wird schon wieder gut,

Das wird schon wieder gut, nu wart‘ man ab.

 

Pause.

 

2.Häft.:    Ich hätte eine Bitte, eine Bitte, wenn es geht.

Bew’in.:    Hört mir mit dem Gejaule auf!

Das kann kein Mensch ertragen.

Macht die Arbeit und seid still.

 

Bew’in. hält sich die Ohren zu.

 

Frau U.:    Du kannst ja sagen, was es ist.

2.Häft.:    Vielleicht verstehst du‘s nicht.

Ich liebe ein Gedicht und hab‘ den Text vergessen.

Das Gedicht ist sehr, sehr lang.

Von uns kommt keine raus.

Wir sind auf dem Gelände festgehalten.

Frau U.:    Kenn ich es? Wie heißt es denn?

2.Häft.:    Es handelt von dem König Jacob

Und dem Grafen Douglas.

Es fängt an:

                     „Getragen hab ich‘s sieben Jahr“.

Frau U.:    Von Theodor Fontane?

                     Das ist lang, sehr lang, hat über zwanzig Strophen.

Es fängt etwas anders an,

Ich kenn‘ es aber. Lieber Gott,

Das kann ich nicht besorgen.

2.Häft.:    Sollst du mir auch nicht besorgen.

Frau U.:    Nicht ein Schnipselchen Papier gestatten die.

2.Häft.:    Ich weiß, ich weiß.

                     Du musst es, müsstest es ein wenig anders machen.

Frau U.:    Wie denn? Hast du einen Vorschlag?

2.Häft.:    Ja, du lernst es ganz und gar

                     Und singst es mir dann vor

                     Und singst es mir dann vor.

 

Frau U. denkt nach.

 

Bew’in.:    Du lieber Gott. Sie sind für zwei Minuten still.

Frau U.:    Das ginge, ja, das ginge.

Bew’in.:    Nein, es geht schon wieder los.

Frau U.:    Ich hab‘ es schon einmal gelernt.

Ich glaube, dass es geht.

Das mach‘ ich gerne. Aber, es wird dauern.

2.Häft.:    Danke, danke, danke.

Frau U.:    Was reizt dich denn an dem Lied,

An der Ballade?

 

2.Häft. sieht sehr verschämt zur Seite.

Frau U. singt sehr langsam weiter.

 

Frau U.:    Welch ein Geist muss in dir wohnen,

Welch ein Freiheitswille,

Welch ein Friedenswille,

Welch ein demutsvoller Geist.

Das Lied besingt das alles,

Und es wird von einem freien Stolz getragen,

Der wohnt sicher auch in deinem Kopf.

Ich lern‘ das Lied,

Du wirst es hören.

2.Häft.:    Du musst mir das Lied ein paarmal singen.

Frau U.:    Gut, das mach‘ ich.

 

Bew‘in und die Häftlinge erstarren zu leblosen Figuren.

Frau U. bindet das Kopftuch wieder um, spricht normal.

Frau U. nimmt einen Mantel und legt sich den über den Arm.

Eine der Frauen steht nun auf und geht auf Frau U. zu.

 

Frau U.:    Das war nach den Krieg.

Ich schäm‘ mich heute noch.

Die Frau kam auf mich zu.

Ein armes Luder. Hab mich einfach von ihr abgewandt.

                     Mir ging‘s schon wieder gut.

Natürlich hätt‘ ich sie erkennen müssen.

Meinen Mantel hätt‘ ich geben können.

Hatte ihn ja übrig.

 

Die Frau spricht Frau U. nicht an, zögert und wendet sich dann ab und geht.

 

Frau U.:    Sie ging weg.

Ich stand genau vor einer Kirche.

Auf der Straße...

         Schamgefühle, Selbstvorwürfe kamen erst viel später.

Mit dem Mantel hätt‘ ich helfen können,

Hatte ihn ja übrig.

 

 

2. Akt,4. Bild. Wen klagt ihr an

 

2. Häftlingsfrau in armseligen Lumpen. Wieder der Klassenraum.

In ihm liegt ein großer Felsen.

 

2.Häft.:    Die U. war gut zu mir.

Sie hat mich gleich verstanden.

Alles, was bei all der Not

In meinem Kopf entstanden war,

Hat sie sofort geseh‘n.

 

Pause.

 

2.Häft.:    Ich habe einen Traum.

Das ist ein Tagtraum. Den träumt man am Tag.

Ich träume ihn von Tag zu Tag.

Ich brauch‘ den Tag, um ihn zu träumen.

Dieser Traum ist nichts für nachts.

Es ist ein Bild in meinem Kopf,

Das hat ein schweres Ende und beginnt

Sich hier in meinem Kopf zu drehen.

Dieses Bild schlägt dann mit seinem schweren Ende

Immer an dieselbe Stelle.

Ja, ich weiß,

Es schlägt das zweite Herz im Kopf.

Doch dies ist anders.

Hier in mir schlägt jemand an die feste Wand

Und wird sie auch durchbrechen

Und zerstören,

Was wird sein, wenn alles offen liegt?

Mein Traum...

 

Sie dreht sich um: Es kommt ein Schwarzhemd mit Rutenbüschel herein.

Man sieht die Axt ganz deutlich darin.

 

2.Häft.:    Die U hat mich verstanden.

Der hätt‘ ich mich gerne weiter mitgeteilt.

Sie hat mir das Gedicht sehr oft gesungen.

 

Alles geschieht jetzt traumhaft, unrealistisch.

Sie wirft sich dem Schwarzhemd vor die Füße

und umklammert seine Beine.

 

2.Häft.:    Ich lass‘ Sie nicht mehr los!

Ich will, dass Sie mich hören!

Hören Sie mich an, Sie brauchen mir nur zuzuhören,

Bitte!

Sieben Jahr‘ hab ich's getragen.

Meine Not ist groß.

Ich bitte Sie um Hilfe, lassen Sie mich heim.

In meinem Kopf schlägt dieses zweite Herz,

Ein fürchterliches Ding.

Sie kennen es vielleicht.

Es schlägt in einem fort

An eine und dieselbe Stelle.

Immer an dieselbe Stelle. Tag für Tag.

Es hört nicht auf.

Die Erde ist verdammt für mich.

Ich bitte Sie,

Bedenken Sie das Herz in meinem Kopf.

Nur heim, ich will nur heim.

Sie können mich versteh‘n

Sie können mich doch retten.

Wenn Sie wollen, können Sie.

Ich bin verzweifelt.

 

Sie beginnt ihm die Schuhe mit Spucke und ihren

Lumpen blank zu putzen. Er steht wie eine Salzsäule.

 

2.Häft.:    Ich will immer Ihre Stiefel putzen,

Für mein ganzes Leben, das versprech‘ ich Ihnen.

Ihre Kleider will ich immer sauber halten.

Immer, immer, immer. Bis ans Lebensende.

Ja, das schwöre ich.

Ich mache mich zu Ihrer Dienerin.

In allen Dingen.

Niemand wird davon erfahren. Niemand.

Nicht ein Sterbenswort.

Ich will nur raus, befrei‘n Sie mich.

Ich weiß, was mir im Kopf an seine Schale schlägt:

Es ist das Schicksal, das will raus.

Ich kann die Judenfrau nicht mehr ertragen.

Was ich will, um was ich fleh‘, ja flehe,

Das ist weiter nichts als Gnade, Gnade,

Nichts als Gnade.

 

Pause. Das Schwarzhemd bleibt unbewegt.

 

2.Häft.:    Ich bin so erschöpft,

So unsagbar erschöpft,

So maßlos ausgeschöpft.

Und immer wieder findet jemand etwas,

Das er mir entreißen kann.

Es ist doch wirklich nichts mehr da!

Er-schöpft! Er-schöpft!

Verstehen Sie das doch.

Was man mir jetzt noch nimmt,

Gehört mir selbst schon längst nicht mehr.

Es ist nur noch mein Leib.

Das ist kein Leib mehr.

Seh'n Sie ihn sich an.

Oh nein, ich schäme mich.

Ja, weiß der liebe Gott, die Scham,

Die Scham ist noch zu nehmen.

Diese Lumpen, das ist meine Lagerkleidung,

Meine Kleidung!

Unwürdig bin ich gekleidet und verkleidet.

Das bin ich doch nicht. Ich bin verkleidet!

Meine Haare! Meine Haare...

 

Sie schlägt die Hände vors Gesicht.

 

2.Häft.:    Ganz entstellt bin ich.

Entstellt und völlig ohne Schuld.

Die vielen Leidenskameradinnen.

Wir wissen nichts von einer Schuld.

Das muss man doch bedenken. Helfen Sie,

Ich werde Ihre Dienerin, wenn Sie uns helfen.

Helfen Sie nur mir, ich bitte Sie, nur mir.

 

Sie weint und schluchzt.

 

2.Häft.:    Ich gebe zu, ich bin in eine Schuld vertieft,

Verstrickt, wenn Sie es wollen.

Doch die ist vor mir entstanden,

Mit der Schuld hab‘ ich doch nichts zu tun.

Ich kann sie nicht begreifen,

Ich begreif‘ sie nicht.

Sie liegt auch nicht auf meinen Schultern.

Aber, wenn es sein muss, lad‘ ich sie mir auf.

Um hier herauszukommen, lad‘ ich sie mir auf.

Ich will in Schuld verstrickt sein, ja, ich will!

Sie haben Macht.

Sie haben große Macht.

Sie haben übergroße Macht, der beug‘ ich mich.

Ich will mich vor ihr beugen.

Hier vor Ihren Augen beug‘ ich mich der Macht.

 

Pause.

 

2.Häft.:    Sie sehen mich gebeugt.

Ich bitte, sehen Sie auf mich,

Herab auf mich.

Ich habe nichts verbrochen, nie in meinem Leben,

Und ich gebe trotzdem alles zu.

Ich gebe zu und ich gestehe. Alles.

Ich bin schuldig, tief in Schuld,

Und stehe so vor Ihnen,

Tief in Schuld gebeugt.

Ich will nur Gnade, Gnade möchte ich,

Ich bitte nur um Gnade.

Darum bitte ich.

Entlassen Sie mich aus der kollektiven,

Aus der allgemeinen Schuld,

Die Sie uns allen geben.

Sehen Sie den Menschen, der vor Ihnen kniet.

 

Das Schwarzhemd tritt mit dem Fuß auf ihren Rücken.

 

Schw.:      Jetzt hab‘ ich dich, du winselndes Objekt.

Gefasel und Gejammer!

Hast du nicht begriffen? Es ist Krieg!

Der ganze Krieg ist nur um deinetwillen!

Nur um deinetwillen!

Wegen deiner kümmerlichen, ausgemergelten Person!

Das wusstest du wohl nicht.

Die ganze Schuld daran trägst du, nur du.

Dir gebe ich die ganze Schuld am Krieg,

Und du versteckst dich hinter deinem Volk.

Du plärrst von kollektiver Schuld,

Das ist ja grad‘ die Schuld.

Bist du nicht Volk? Wer ist dein Volk,

Wenn du und jeder einzelne von euch nicht Volk ist?

Nur um deinetwillen und um euretwillen

Gibt es diesen Krieg! Begreife, Mensch!

 

Sie versucht seine Hand zu erreichen.

 

2.Häft.:    Mein Volk ist völlig ohne Schuld.

Es gibt doch keine Schuld des Einzelnen

Und keine Völkerschuld.

Kein Mensch hat Schuld an sich.

Kein Mensch trägt Schuld an sich.

Wie könnte Schuld persönlich sein.

Für ein Verbrechen könnte man

Mich jederzeit belangen,

Wüsste ich nur ein Verbrechen, eines nur,

Ich würde mich nach Strafe sehnen,

Würde sie geradezu verlangen.

Nein, kein Mensch trägt Schuld an sich,

Denn Schuld ist allgemein.

Die Schuld entsteht durch uns, durch alle.

Schuld ist immer außerhalb.

Sie legt sich wie ein Mantel,

Den wir gar nicht wollen, auf die Haut,

Auf unsre Haut, auf jede Haut.

Ich geb‘ sie zu.

Ja, Schuld in dieser Art ist meine Schuld.

Wir Menschen sind verstrickt in diese Schuld.

Ich bitte Sie um Ihre Hand, ich will sie küssen.

Ihre Hand, dass ich sie küssen kann.

Es ist doch eine Schuld, die alle tragen müssen.

Ihre Hand. Ich bitte Sie um Ihre Hand.

 

Er entreißt ihr seine Hand.

 

2.Häft.:    Sind Sie mit nichts zu rühren?

Denken Sie nicht manchmal an die Zeiten,

Als wir Frieden, festen Frieden

Unter unsren Völkern hielten.

Denken Sie an die Geschichte.

Unsere Völker lebten mehr als einmal

Volk im Volk. Sie Lebten ineinander.

Konnten, durften ineinander leben. Lebten!

Tausendmal ist das bewiesen worden.

Schw.:      Die Geschichte, die Geschichte!

Die sagt gar nichts und sagt alles.

Die Geschichte ist auch Boden für die Kommenden!

Nun sind wir da.

Ich frag dich, bist du eine Jüdin oder nicht!

Aha, da fällt die Klappe wieder zu.

Da weißt du nichts zu sagen, oder?

Siehst du, das ist so nicht abzutun.

 

Er stößt sie von sich.

 

Schw.:      Ich hab‘ meinen guten Tag.

Ich werde meine Augen über dich hinweg

Ins Weite schicken,

Dass ich dich nicht seh‘.

Ich müsste dich sonst längst erschlagen haben.

Mehr kann ich nicht tun.

Mehr kann ich überhaupt nicht machen.

So, wie du dich aufführst ...

         Wenn ich dich zur Kenntnis nehmen würde...

Also lass mich geh‘n,

Und klammer dich nicht mehr an meine Schritte.

 

Er sieht immer noch über sie hinweg.

 

Schw.:      Müsstest froh sein,

Dass von uns so viele Vieles übersehen.

Denk‘ an die Bewacher,

Die euch oft aus der Bewachung lassen,

Die nicht sehen wollen, was sie sehen.

Halt mich nicht mehr auf, sei still.

Halt endlich deinen Mund..

 

Das Schwarzhemd erstarrt zur steinernen Figur.

 

2.Häft.:    Hören Sie mir doch noch zu!

Mein Gott, ich bitte Sie.

Sie sind der einzige, der helfen kann,

Ich biete Ihnen meine Hilfe an.

Ich helfe Ihnen. Alles gebe ich,

Hier, meinen Leib, mein Kopf,

Das Herz in meinem Kopf,

Dies, Ding darin,

Das mich von innen her erschlagen wird.

Versteinern Sie doch nicht.

Bewegen Sie sich doch.

Wie kann ich Sie nur wecken.

Eine Geste nur, nur eine Geste.

Dass ich hoffen kann, nur eine Geste.

Meine Hoffnung werden Sie mir

Doch nicht auch noch nehmen wollen?

Meine Hoffnung doch nicht auch noch.

Lassen Sie die Grausamkeiten enden.

Ich erflehe nur Besinnung auf Gerechtigkeit.

Das ist doch nicht zu viel?

Ich flehe nur um Frieden, Frieden, Frieden.

Nur um meine Hoffnung flehe ich,

Die dürfen Sie doch nicht erschöpfen!

 

Sie springt auf und wirft sich auf den Boden vor den Stein und weint.

 

2.Häft.:    Wär‘ ich doch aus Stein wie der.

 

Sie schreckt hoch und sieht erschreckt auf den Stein.

 

2.Häft.:    Der blutet ja.

Das Blut kommt aus dem Stein. Du blutest?

Können Steine bluten? Blutest du?

 

Sie taucht mit dem Finger hinein. Über den Stein läuft jetzt eine

rote Fährte Blut. Sie schreckt wieder hoch.

 

2.Häft.:    Das brächte nichts?

Heißt das, dass Steine bluten können?

Bluten Steine?

Haben Steine Wunden?

Habt ihr Wunden?

Blutet ihr aus euch heraus?

Stein.:      Es macht uns Steine schwindeln.

Ja, wir bluten. Steine bluten.

Es entsteht ein Tanz aus Scham,

Aus Hoffnung, Angst und Ahnungslosigkeit,

Aus Schwarzhemdtragerei und Hilfsbereitschaft,

Der uns Steine schwindeln macht und bluten lässt.

Der Tanz reißt unsre Körper auf.

Der Tanz lässt die Erinnerung verblassen.

Unser Blut wird auskristallisiert.

Wir geben es von uns.

Wir woll‘n es nicht mehr haben.

Unser Blut, ein Gut, das man

Nicht mit den Händen fassen kann.

2.Häft.:    Hört auf! Hört auf. Nein, ich versteh‘ euch nicht.

Wen klagt ihr an!

Ihr klagt doch an?

Ist eure Klage, wenn es eine Klage ist,

Für mich bestimmt?

Ich kann euch nicht verstehen.

Statt, dass ihr mir helft,

Klagt ihr mich an?!

 

                                  Sie wirft sich über den Stein und schluchzt und weint.

 

 

2. Akt, 5. Bild. Unsre eigenen Probleme

 

Das Klassenzimmer. In den Bänken sitzen die Insassinnen,

Jugendlichen und Erwachsenen in Gruppen getrennt.

Herr D. steht auf und kommt nach vorne.

 

Herr D.:    Der Krieg war Gott sei Dank zu Ende,

Haben wir gedacht.

Jetzt tobte erst mal die Besatzungsmacht.

Drei Tage hatten die Soldaten

Für die Plünderung der Stadt bekommen.

Wir hier draußen merkten anfangs nichts davon.

Man hatte der Bevölkerung verboten

Ihre Häuser zu verlassen.

Frau‘n und Mädchen krochen unter ihre Betten,

In die Schränke, hinter Wände,

Was weiß ich wohin.

Und andre sahen ihre Chance...

Heute redet keiner von den Frau‘n und Mädchen,

Die von den Soldaten, ob sie wollten oder nicht…

Man weiß Bescheid...

Die Männer waren nicht zu Hause...

Waren an der Front, gefangen, tot, verschollen,

Auf dem Weg nach Hause,

Auf dem Weg in die Gefangenschaft.

Erst nach der Plünderung,

Nach den drei Tagen, ging‘s hier draußen los.

Wir hatten durch die aufgelösten Lager

Plötzlich neu zu leiden.

Kaum, dass jemand von der Existenz der Lager

Etwas wusste.

Wachen hatte man vertrieben,

Oder sie nach Haus‘ geschickt.

Im Außenlager Sasel hatte die Beköstigung der Leute

Über Nacht ein Ende.

Außerhalb, das wisst ihr,

War ja alles rationiert.

Es wurden harte Strafen angedroht

Und bei Verstößen ausgeführt.

In Trillup, gleich da drüben,

Saßen Russen, waren ehemals Gefangene.

Die hatten Glück, die wurden weiterhin verköstigt.

Plötzlich warn die frei

Und konnten mit der Freiheit nichts beginnen.

Keiner wollte heim nach Russland.

Das verstand hier keiner.

Wie wir dann erfuhren, dachten die,

Man würde sie in Russland gleich erneut

Ins Lager stecken, oder nach Sibirien schicken.

Davon hatten sie gehört.

Das war für sie der schrecklichste der Schrecken.

Lieber blieben sie bei uns.

2.Jug.:     Verstehst du das?

1.Jug.:     Ich hab‘ davon gehört.

Die fuhren immerzu nur Fahrrad.

Überall sah man sie mit den Rädern.

Aber in die Heimat wollte keiner,

Weil sie zu viel wussten über dieses Land.

Das war der Grund.

2.Jug.:     Da sind sie Rad gefahren? Immerzu?

Durchs Dorf, durch alle Straßen?

1.Jug.:     Ja, die fuhren Fahrrad,

Und sie waren glücklich.

Herr D.:    Die Bevölkerung erfuhr das erste Mal

Vom Lager auf dem Saselberg.

Das waren alles Jüdinnen und Ukrainerinnen.

Lebensmittel gab es nicht.

Die kamen an und bettelten die ganze Gegend ab

Und fragten überall herum.

Die gingen hin und her und hin und her.

 

Vor Herrn D. steht ein Telefon. Er wählt eine Nummer.

 

Herr D.:    Ja, hier ist D.

Ich hätte gen‘ den Kommandanten..

Spricht der deutsch?

Ja, danke. Wird‘ verbunden?

Danke, das ist gut.

Ja, D. mit wem bin ich verbunden?

                     Mit der Polizei? Ach, so.

                     Ich höre, ja.

 

Herr D. schreibt etwas auf.

 

Herr D.:    Bedanke mich.

 

Er legt auf und wählt neu.

 

Herr D.:    Bei denen klappt noch alles.

Neue Nummer. Na, mal sehen.

Hallo?

Ja, hier D. Sie sprechen deutsch?

Ja, ich versteh‘ Sie gut.

Ich habe ein Problem.

Ich sitz‘ hier draußen auf dem Hof.

Ich fürchte, dass wir von den Freigelassenen

Besuch bekommen. Ja, Ukrainer. Ja, aus Trillup.

Wenn die meinen Hof besetzen oder so…

Ich frag‘ nur, ob Sie mir da helfen könnten.

Schnelle Hilfe?

Gibt‘s da schnelle Hilfe? Ja?

Den Obersten direkt? Das kann man machen?

Seine Nummer, oder sein Büro.

Ja, vielen Dank.

Natürlich nur im Notfall.

 

Herr D. schreibt wieder etwas auf.

 

Herr D.:    Danke. Vielen Dank.

 

Er legt auf.

 

Herr D.:    Ich hatte mir so was gedacht.

Es standen plötzlich zwanzig von den Männern

Auf dem Hof.

 

Er greift zum Telefon.

 

Herr D.:    Verbinden Sie mich bitte mit dem Obersten,

Es ist ganz dringend!

 

Er zögert.

 

Herr D.:    Nein, ich glaube, es ist nicht mehr nötig.

Nein, ist wirklich nicht mehr nötig.

Danke, hat sich von allein erledigt.

Vielen Dank, Entschuldigung.

 

Er legt auf.

 

Herr D.:    Ein Tommy kommt. Da hab‘n die Pech gehabt.

Da troll’n sie sich. Ein Offizier.

Na, so ein Glück! Und welch ein Zufall.

Plündern ist natürlich längst verboten.

Steht schon wieder Strafe drauf.

Ich könnt‘ ihn küssen.

 

Engl. Offizier tritt auf. Herr D. geht auf ihn zu.

 

Herr D.:    Ganz genau im rechten Augenblick.

Ich möcht‘ nicht wissen, was passiert wär‘.

Danke, dass Sie eingegriffen haben.

 

Herr D. will ihm die Hand schütteln. Der Off. will das nicht.

Frau D. steht auf und kommt nach vorne.

 

Frau D.:   Der hat nichts gemacht.

                     Der weiß doch überhaupt nicht,

Was passiert ist. Und es ist auch nichts passiert.

Ich hab den Ukrainern was zu essen aufgeschnitten.

Herr D.:    Doch wohl nicht vom Speck?

Frau D.:   Wovon denn sonst.

Das wollten die. Jetzt lassen sie uns auch in Ruhe.

Herr D.:    Was, den Bettlern?

         Sind doch alle aus dem Ausland!

Frau D.:   Die war'n ganz verrückt vor Hunger.

Hier war Speck genug.

Ich hab‘ ‘n bisschen davon aufgeschnitten.

Herr D.:    Doch wohl nicht den ganzen Speck!

                     Das war‘n ja mehr als zwanzig Leute!

Frau D.:   Eben.

Herr D.:    Wovon woll‘n wir leben?

Unser Speck an diese Leute!

Und was will der Offizier?

Der hat womöglich zugeseh‘n? Natürlich!

Der will auch was haben.

Frau D.:   Kann schon sein.

Off.:         Two springhens please.

                     Two springhens for my “0bersten”.

 

Der Offizier macht das Gegacker von Hühnern nach und flattert herum.

Mit den Fingern zeigt er: zwei!

 

Off.:         Two „fette“ hens, two springhens

                     For my „0bersten“, you know?

Herr D.:    Der ist total verrückt! You know, you know!

Ich nicht!

Glaubt der, dass ich ihm Hühner geb‘?

Für seine Siegesfeier?

Off.:         „Fette“ springhens, please.

                     Yes, two.

 

Der Off. kommt auf Herrn D. zu.

 

Herr D.:    Das trifft sich gut!

Die Hühner könn‘n Sie haben.

Aber selber fangen!

Ja, die müssen Sie sich selber fangen,

Wenn Sie welche haben wollen.

 

Der Off. guckt suchend herum.

 

Herr D.:    Übrigens, hab‘ grade mit dem Obersten

Gesprochen.

Wegen der da draußen.

Mit dem Obersten, mit lhrem Obersten,

Der wird gleich kommen.

Ja, das trifft sich wirklich gut.

Der ist bestimmt gleich hier.

Dann könn‘n Sie ihm die Hühner selber geben.

Sie versteh'n mich doch?

You know?

 

Der Off. sieht ihn ungläubig an.

 

Off.:         You phoned? My “0bersten”? It’s true?

Herr D.:    Und ob das wahr ist.

                     Der ist unterwegs.

Off.:         Ok, dann sorry? Sorry, understand.

 

Der Offizier geht ab. Herr D. grinst.

 

Herr D.:    Die Hühner ließen sich vom Offizier nicht fangen,

Und er selber wollte sich vom Obersten

Nicht fangen lassen.

Ich hab‘ auch den Obersten nicht wieder

Angerufen.

Der wär‘ sicher gerne und sofort gekommen.

Das war mir jetzt sonnenklar.

 

Herr D. setzt sich wieder auf die Bank.

Es kommen Jugendliche nach vorne.

 

1.Jug.:     Na, soviel ist gewiss,

                     Im Schock des Lagers stand der nicht.

                     Der war auch nicht betroffen.

2.Jug.:     Doch, von sich.

1.Jug.:     Von Mitleid keine Rede.

Die im Lager, oder aus dem Lager,

Hatte der nicht auf der Pfanne.

 

Herr D. ruft dazwischen.

 

Herr D.:    Unsre eigenen Probleme

Konnte man doch nicht vergessen.

Wer hätt‘ sich um meinen Hof gekümmert.

Wer wohl! War doch keiner da.

Wir hatten selbst Probleme.

Nein, es int‘ressierte wirklich niemanden das Lager

Und die Insassinnen;

All die Leute, die von dorther kamen.

3.Jug.:     In den ersten Tagen starben noch zwei Frauen,

„Leute“ aus dem Lager!

Solches Unrecht wird wohl nicht und nie

Zurückzubiegen sein.

Die Tore waren aber endlich auf.

Man konnte jetzt ins Lager sehen,

Und die Frauen liefen überall herum.

2.Jug.:     Herr D. hat seine Wahrheit,

         Und er hat sie uns gesagt.

Zu viele kannten nicht die Hintergründe.

Und die Propaganda, Tag für Tag.

Die klang noch lange nach.

Die saß noch fest in ihren Ohren.

 

Eine Stimme aus dem Lautsprecher:

 

Lauts.:     Die im Lager sind nur eine Bande

Kriegsgefangener und Sträflinge!

Wir stoßen immer wieder auf die Arbeitsscheuen

Und die kriminellen Elemente.

Nur für die sind Sammellager eingerichtet worden.

Denen werden wir‘s schon zeigen!

Denen bringen wir noch bei, was Arbeit ist.

Die werden uns auf Knien dafür danken.

Es ist nützlich,

Wenn wir ihre Arbeitskräfte nutzen,

Wenn sie uns beim Häuserbau behilflich sind.

Die Juden waren uns am schädlichsten.

Sie haben überall geschadet.

Ganz besonders in der Wirtschaft.

Daher ist es ganz gerecht für sie,

So viel wie möglich wieder gutzumachen.

Das sind alles Untermenschen,

Fremde Rassen!

Die sind überhaupt nichts wert!

3.Jug.:     Die haben nichts kapiert

                     Und immer nur geschluckt.

                     Ganz ekelhafte Vordergründigkeit

Und widerlicher Unsinn, Schmutz und

Lug und Trug.

Lauts.:     Man kann uns keinen Vorwurf machen.

Wir verstehen nicht,

Wo uns ein Vorwurf treffen sollte.

Lager mit „gefang’nen“ Menschen

Gibt es nicht bei uns.

Davon ist nichts bekannt.

Die ganze Sorge gilt den tapferen Soldaten.

Ja, wir teilen diese Sorge der Bevölkerung.

Es müssen alle standhaft sein!

Wir dürfen uns nicht von den Bomben

Überraschen lassen.

Unsre Lebensmittel müssen wir

Noch viel gerechter teilen.

1.Jug.:     Sicher dachten so die meisten.

Eigene Probleme standen nah genug.

Die Bombenopfer, die Gefall'nen.

         Hab‘ und Gut war hin.

Wie soll man da noch die Probleme

Anderer erkennen.

3.Jug.:     Trotzdem darf man nicht vergessen, dass es

                     Menschen gab, die helfen wollten und es taten.

 

Frau D. ruft dazwischen.

 

Frau D.:   Und sie taten es entgegen dem Verbot!

 

Alle Erwachsenen nicken.

 

Alle Erw.: Ja, Ja. entgegen dem Verbot.

Das stimmt! Entgegen dem Verbot!

Die taten es entgegen dem Verbot!

 

 

2. Akt, 6. Bild. Lena G.: „Frauen müssen Frauen helfen“

 

Klassenzimmer. Frau R. und Frau Lena G. treten auf.

 

Frau R.:    Wir kenn‘n uns doch.

                     Sind Sie nicht auch aus Sasel?

Frau L.G.: Ja, natürlich. Lena G.

Mich hat ein Schüler angerufen.

Hat mich hergebeten.

Frau R.:    Wissen Sie denn, was die von uns wollen?

Frau L.G.: Für paar Fragen hat der mir gesagt.

Ein Schüler hat mich angerufen.

Hatte eine nette Stimme.

Als ich seine Stimme hörte,

Dachte ich sofort an meinen Sohn.

Die Stimme war so jugendlich,

So frisch, so unbedarft.

Frau R.:    Mein Sohn ist auch geblieben.

Sicher woll‘n die wieder irgendetwas wissen,

Wie es damals war und so.

Die schreiben grade über dieses Thema.

Krieg und „nach dem Krieg“.

Frau L.G.: Was hat man sich gequält.

                     Verstehen kann ich‘s heut noch nicht.

Frau R.:    Die Zeit war schlimm.

Es gab ja nichts.

Wir brauchten dringend Medizin zum Beispiel.

Frau L.G.: Stimmt. Wenn ich an unsren Jüngsten denk.

Der hatte Diphtherie. Gleich nach dem Krieg.

Die Kinder waren doch noch klein.

                     Und keine Medizin.

Ich gab ihm seinen eigenen Urin zu trinken.

Frau R.:    Und es hat geholfen.

Frau L.G.: Manchmal ja.

Bei uns‘rem Sohn war‘s schon zu spät.

Er konnte nicht mehr schlucken.

 

Pause.

 

Frau R.:    Mich hat auch ein Schüler angerufen.

Hat mir was von einem Stein erzählt.

Die wollen einen Stein errichten zum Gedenken,

Hat er mir gesagt.

Dann woll‘n die jungen Leute wissen...

Frau L.G.: Wie es damals war natürlich.

Frau R.:    Wer mal wem geholfen hat und so…

Frau L.G.: Die haben auch schon einen Platz

                     Für den Gedenkstein, wenn er fertig ist.

Frau R.:    Wo denn?

Frau L.G.: Gleich an der Ecke Feldblumen- und Petunienweg.

Sie wissen doch!

Da auf der Ecke.

Ist ein schöner Platz.

Frau.R.:    Da werd‘n sich wieder einige bedanken.

Frau L.G.: Meinen Sie? Wer denn?

Frau R.:    Vielleicht die Leute, die da wohnen,

Was weiß ich.

Frau L.G.: Was soll‘n die denn schon sagen.

 

Pause.

 

Frau L.G.: Damals waren alle Männer weg.

Frau R.:    Und die, die was zu sagen hatten,

War‘n in der Partei.

Geholfen haben immer nur die Armen.

Immer nur die Armen.

Das ist immer so.

Das waren alles Frauen, Siedlerfrauen,

Die geholfen haben,

Die aus eigner Not

Die Not der anderen erkannten.

Hatten selber nichts

Und gaben immer wieder ab.

Ich selbst bin damals, noch im Krieg,

Von Haus zu Haus gegangen, hab‘ gebettelt.

Ja, hab‘ ich gemacht.

Ich hab‘ gebettelt, aber nicht für mich.

Ich hab‘ für  d i e  gebettelt,

         Für die Frau‘n im Lager.

Um Kartoffelschalen, Apfelreste, Brot,

Um alles, was man essen konnte.

Was man sonst den Schweinen gab.

Mir hat so manche Nachbarin geholfen.

Aber niemals hat mich eine einzige gefragt,

Warum ich betteln geh‘.

Frau L.G.: Ich hatte einen Pappkarton,

Den hab‘ ich über den Gefang‘nen ausgeschüttet.

Das ging gut.

Die waren unten an den Gleisen.

Machten Schwerarbeit. Berliner Tor.

Dahin bin ich gefahren und von oben,

Von der Brücke, hab‘ ich meine Schätze abgeladen.

Die da unten wussten gleich Bescheid.

Nicht eine hat ein Wort gesagt.

Die haben jedes Stück gefunden.

Frau R.:    All die Reichen konnte man vergessen.

Frau L.G.: Sag‘ ich doch.

                     Es hilft die Not der Not.

 

Frau Lena G. singt ein Lied:

 

Frau L.G.: Schrei nicht in der Not!

Denn wer dich hörte, der hörte dich nicht,

Und wer dich sähe, der sähe dich nicht,

Und wer dich kennte, der kennte dich nicht.

Schrei nicht in der Not!

 

Doch, schriest du in der Not,

So würde dich hören, den du nicht hörst,

So würde dich sehen, den du nicht siehst,

So würde dich kennen, den du nicht kennst,

Er würde schreien wie du in der Not.

 

Frau R.:    Das war doch auch verboten.

Frau L.G.: Ja, verboten. Vieles war verboten.

Alles war verboten bis auf das,

Was man erlaubte.

Frau R.:    Uns‘re Männer hatten Angst um ihren Arbeitsplatz.

                     Die standen unter Druck.

                     Die haben alle mitgemacht!

                     Und plötzlich war der Zug schon abgefahren.

Frau L.G.: Wissen Sie noch wie man damals

Judenfrauen aus dem Lager

Zwischen all den anderen begraben wollte?

Bergstedt, auf dem Friedhof?

Doch, das wissen Sie.

                     Die haben sie zu all den andern

Einfach in den Reihen eingegraben.

Welch ein Aufstand.

Frau R.:    Weiß ich, weiß ich noch genau.

Das sind die „ganz bestimmten Kreise"

Die ich vorhin meinte.

Die hab‘n damals aufgeschrien

Und hätten fast die eigenen Verwandten

Wieder ausgegraben.

Frau L.G.: Das war schlimm.

 

Pause

 

Frau L.G.: Ich hatte oft gedacht,

Man müsste doch die Hilfe irgendwie

Organisieren können. Mit System.

Ich weiß nicht wie.

Ich hab‘s auch nicht geschafft.

Frau R.:    Mein Gott, was hätten Sie riskiert!

Da stand doch Todesstrafe drauf.

Das war doch zu gefährlich.

Frau L.G.: Ja, es blieb nur Milch,

Die man in Dorf verteilte.

Die erreichte viel zu wenige.

Die reichte lange nicht für alle.

Ich war jung. Ich sah das Elend und das Unrecht

Ziemlich gut.

Ich hatte Mitleid.

Viele Frauen hatten Mitleid.

Aber mütterliches Wollen, mütterliches Denken,

War bei mir nicht alles.

Ich empfand so etwas wie Gewissen,

Das sich meldete.

Frau R.:    Das kenn‘ ich. Ganz genau so war es.

Frau L.G.: Ich war ganz besessen von dem Satz, von dem Gedanken;

„Frauen müssen Frauen helfen“!

Immer wieder:

„Frauen müssen Frauen helfen“!

Sie verstehen doch?

Das ist ganz etwas anderes,

Als wenn da jemand sag:

„Wir wollen helfen, oder ich hab‘ Mitleid“

„Frauen müssen Frauen helfen“,

Das ist doch gezielt,

Das weist in beide Richtungen,

Auf die, die helfen sollen,

Und auf die, die Hilfe brauchen.

Und es zeigt auch,

         Wem geholfen werden muss,

Und zeigt, wer Hilfe geben kann.

Man tappt nicht mehr im Dunkeln.

Die Betroff‘nen wissen doch

Sofort Bescheid.

Man kann sogar die Hilfe fordern

Und sie geben müssen.

Seh‘n Sie, das ist neu an dem Gedanken.

Das hat mich bestochen.

„Frauen müssen Frauen helfen“

Ist ein Recht, wenn man so will.

Ein Recht für alle Frauen.

Das erklär‘ ich heute noch den jungen Frauen.

Frau R.:    Man verschreckt die Männer leicht damit.

Frau L.G.: Das glaub ich nicht.

Man übersieht nur leicht

Den inneren Zusammenhang dabei.

Wenn „Frauen Frauen helfen müssen“

Werden sie dabei auch ihre eignen Wege gehen,

Ja, sie müssen ihre eignen Wege gehen.

So entsteht Verständigung und schnelle Sicherheit.

Ja, es entsteht auf diese Weise

Eine andre Art von Hilfe,

Als man sie erwartet oder kennt.

                     Das hat mit Männern kaum noch was zu tun.

Ich kenne Männer, die mir dabei

Viel geholfen haben, die mich unterstützten.

Mitgefühl statt Mitleid

Ist zum Beispiel eine neue Art der Hilfe.

Mitgefühl, statt Mitleid, das ist besser.

Frau R.:    Ja, das find‘ ich gut.

                     Das lässt für alle Platz und Raum.

 

Frau R. wickelt ein Transparent aus, welches herumliegt.

 

Frau R.:    Die lassen uns hier ganz schön warten.

                     Seh‘n Sie mal.

                     Ob das der Text für den Gedenkstein ist?

 

Frau Lena G, liest:

 

Frau L.G.: „Das Blut, das uns zum Gut geworden ist,

Das auskristallisierte,

Kann man mit den Händen fassen“.

Frau R.:    Meinen. Sie,

Dass das die Menschen mahnen kann?

Kein Wort von Menschenrechten?

 

Frau R. schreckt hoch. Frau Lena G. geht langsam

und unbeteiligt ab.

Ein Mann schiebt einen Karren durch das Klassenzimmer.

Darauf liegen verdeckt, aber erkennbar, zwei Tote.

 

Frau R.:    Den hab‘ ich total vergessen.

Oh, mir fällt so vieles ein.

Der machte einen schlimmen Dienst.

Er muss die Toten aus dem Lager rüberschaffen,

Auf den Friedhof Bergstedt.

Ist Gefan‘gner. Muss beim Bauern Arbeit machen.

Für die Totenfuhre kriegt der Bauer

Dann vom Lager alle Küchenreste

Für die Schweine.

Für die Frauen gibt es nichts.

Die Reste für die Schweine.

Seine Totenfahrt bezahlen die mit Schweinefraß.

 

Karre ab.

 

Frau R.:  Ein andres Mal im Wald.

 

Es schleppen sich wenige entkräftete Insassinnen durch das Zimmer.

Frau R. versteckt sich sofort.

 

Frau R.:    Da liefen mir die Frauen übern Weg,

Ich habe mich geschämt vor denen,

Und ich habe mich versteckt.

Geschämt fürs Vaterland.

Nur schwankende Gestalten.

Ach, die sind fast tot.

Wenn die zusammenbrechen oder sterben,

Sterben die nicht an der Folter,

Sondern vor Erschöpfung.

 

Die Insassinnen singen nach einer monotonen Melodie.

 

Ins.:         Wir sind Totensammlerinnen,

Sammeln Bombenopfer ein.

In Ohlsdorf werden sie

Von uns begraben.

Wir sind Totensammlerinnen,

Sammeln...

Frau R.:    Schlimme Lieder singen sie.

 

Insassinnen ab. Ein Bewacher kommt hinterher.

Frau R. kommt wieder aus ihrem Versteck.

 

Bew’er.:    Sie!

Sie sollten schnell nach Hause gehen.

Schließen Sie sich ein.

Der Krieg ist bald zu Ende.

Die soll‘n freigelassen werden.

Könn’n sich denken, was dann los ist.

                     Ist doch klar.

Die werden alles klauen,

Was die in die Finger kriegen.

 

Bew‘er. ab.

 

Frau R.:    Ich hab‘ gar nichts abgesperrt.

                     Natürlich kamen die und bettelten.

 

Die Insassinnen kommen zurück.

Haben jetzt aber richtige Kleider an.

Eine ist besonders jung.

 

Frau R.:    Maria war die jüngste.

Maria:      Ich bin sechzehn Jahre.

Vielen Dank.

Wir wollen für die Kleider danken.

Frau R.:    Du bist lieb.

                     Was machen deine Beine?

 

Maria hebt den Rock etwas hoch.

 

Frau R.:    Sieht noch sehr schlimm aus.

                     Trotzdem, ich glaube, das heilt schnell.

Maria:      Nur, weil ich keinen Ausweis hatte,

Haben die mich eingesperrt.

Sie haben mich...

 

Die Insassinnen erstarren zu Figuren.

 

Frau R.:    Wo ist die Lena G. geblieben?

Immer wieder fall‘n mir diese Dinge ein.

Die Jugendlichen lassen ganz schön

Auf sich warten.

Wo die bleiben?

Hab’n schon längst was andres vor.

Ist wohl nicht int‘ressant genug.

Zu alt für die.

Dann brauchen sie ja nicht erst anzurufen.

 

Frau R ab. Insassinnen bleiben erstarrt.

Sofort stürzen drei Jugendliche mit Fernsehkameras

auf den Schultern aus Verstecken hervor.

 

1.Jug.:     Was hab‘ ich gesagt!

Die Omis waren prima!

Habt ihr alles drauf?

Die war'n doch richtig toll!

2.Jug.:     Hab‘ alles drauf. Das hat geklappt.

Ich fand die auch ganz toll!

1.Jug.:     War‘n richtig süß die beiden.

Und man konnte alles glauben,

Was die sagten.

3.Jug.:     War viel besser so,

So hat man doch viel mehr erfahren

Als mit der Befragerei.

1.Jug.:     Irgendwann werd‘ ich‘s sie wissen lassen,

Dass sie auf dem Film sind.

2.Jug.:     Kannst du machen. Irgendwann.

1.Jug.:     Ich fand die nett.

 

 

3. Akt, 1. Bild. Im Gnadenfutter

 

Eine Küche. Am Herd Frau. U. Ein größeres Mädchen

hat sich als kleines Mädchen verkleidet und

spricht mit piepsiger Stimme.

Die Mutter füllt Essen auf.

 

Mäd.:       Du, Mami?

Mu.:         Ja, was gibt‘s.

Mäd.:       Du, Mami?

 

Seufzer des Mädchens.

 

Mu.:         Was denn.

 

Seufzer der Mutter.

 

Mäd.:       Hab' dich lieb! So lieb, so lieb,

Wie meine..

Mu.:         Na, mein Schatz, wie deine...

 

Mädchen läuft zur Mutter.

 

Mäd.:       So wie meine Mami und wie meine Püpi

                     Und wie mein Geheimnis in der Schachtel...

Mu.:         Deine braunen Federn?

Mäd.:       Ja, und, und, und...

Mu.:         Na, fällt dir noch was ein?

Mäd.:       Ich weiß nicht.

Mu.:         Ach, mein Schatz.

                     Die Mami hat dich auch sehr lieb.

Mäd.:       Ich hab‘ dich aber viel, viel lieber.

Mu.:         Ganz bestimmt.

Nun setz dich aber hin.

Es gibt gleich Essen. 

Mäd.:       Was kriegt Papi an der Front zu essen?

                     Kriegt er Essen von der Front?

         Isst Papi an der Front?

Mu.:         Natürlich, und ich hoff‘ was Gutes.

Mäd.:       Woher kriegt er das?

                     Kocht er für sich alleine?

Mu.:         Glaub‘ ich nicht. Ich weiß es nicht.

                     Nun setz dich bitte hin.

Mäd.:       Gibt‘s für Soldaten extra eine Mami?

                     Kocht die auch?

Mu.:         Mein Gott, ich glaube ja.

Ich hoffe es. Ich weiß es nicht.

Ich weiß es wirklich nicht.

Ich hoffe, dass sie auch ‘ne Mami haben,

Die das Essen kocht.

 

Ihr Sohn(etwa 15 Jahre alt, später Herr N.) kommt in die Küche.

 

Mäd.:       Du, Mami?

Mu.:         Was denn noch?

Mäd.:       Du, Mami, gibt‘s im Krieg für Essen

                     Eine Pause?

Mu.:         Was sagst du?

Jun.:        Tag.

Mu.:         Dass du dich auch mal sehen lässt.

Jun.:        Tag, Kleine.

Mu.:         Setz dich.

Jun.:        Gibt‘s was Feines?

Mu.:         Feines, Feines. Und woher, wovon?

Was gibt‘s denn in der Schule?

Jun.:        Mist. Johanna soll ne Jüdin sein.

Die hab‘n ein Drama draus gemacht.

Der Lehrer hat gesagt,

Sie soll von andren Mädchen Abstand halten.

Vor der Klasse hat er das gesagt.

Mu.:         Man muss sich wundern,

Dass die überhaupt noch auf der Schule ist.

Ich möchte wissen, wem sie das verdankt.

Ein Glück für sie.

Ich glaub‘ die Mutter kennt den Leiter oder so.

Jun.:        Kann sein.

Ich fand das furchtbar: vor der Klasse.

Und zu mir hat der Idiot gesagt:

Dein Vater ist doch Sozi, oder?

Mu.:         Was hast du gesagt, um Gottes Willen?

Jun.:        Demokrat! Hab‘ ich gesagt, mehr nicht.

Mu.:         Und er?

Jun.:        Nur gut, mein Junge,

                     Dass dein Vater an der Front ist.

Mu.:         Junge, Junge.

                     Du darfst gar nicht reagieren.

Wir sind so und so verschrien.

Und alles durch die blöde Politik.

Jun.:        Dem zahl‘ ich‘s heim.

Mu.:         Du wirst ihm gar nichts.

                     Iss erst mal und reg‘ dich ab.

Mäd.:       Du, Mami?

Mu.:         Ja, was ist.

Mäd.:       Was sind denn das für Frauen immer?

Jun.:        Was für Frauen!

Mu.:         Kind sei still.

                     Sie meint die aus dem Lager.

 

Pause. Mutter spricht langsam weiter.

 

Mu.:         Kindern wird der Tisch gedeckt.

Die essen und sind still.

Die fragen nicht.

                     Mein Kleines, frag‘ nicht.

Sieh auf deinen Teller.

Alles ist bereitet.

Iss die Speise, dass du wächst.

Den Kindern wird der Tisch gedeckt,

Die essen und sind still.

Ju.:          Du sollst von solchen Sachen gar nichts wissen.

Mu.:         Und du sollst nicht davon reden.

Außerdem versteh‘n wir nichts davon.

Mäd.:       Ich seh‘ sie aber immer.

Mu.:         Die sind aus dem Arbeitslager,

Das ist sehr, sehr, nützlich.

Diese Frauen helfen uns beim Häuserbau.

Jun.:        Die Frauen gibt es offiziell ja gar nicht,

Existieren nicht.

Mu.:         Wieso?

Jun.:        Ich hab‘ die Wache einfach angesprochen

Und gefragt.

Mu.:         Du hast..

Jun.:        Warum denn nicht?

Die hab‘n gesagt:

Mein Junge, alles bestens, alles bestens.

Ist am besten, wenn du gar nichts siehst.

Wir sagen dir, was du hier siehst,

Das gibt es gar nicht,

Weil es gar nicht existiert, verstehst du?

Und dann hab‘n sie mich davongejagt.

Hau ab, hab‘n sie gesagt, verschwinde!

Mu.:         Warum fragst du auch. Da siehst du‘s.

Iss doch bitte jetzt.

Ju.:          Ich ess‘ ja.

Die Bewachung ist ganz schlecht.

Wenn die zur S-Bahn gehen

Sind die eine langgezog‘ne Herde müder Schafe.

Ewig dauert das,

Bis die vorbei sind.

Haben bloß die Holzpantinen an.

Ein Elendszug ist das.

Die sind ja völlig abgemagert.

Eine wie die andere.

Und alles Frauen, nichts als Frauen.

Mu.:         Junge, iss. Wird alles kalt.

Jun.:        Sind grau in grau,

Mu.:         Die hab‘n doch auch mal Feierabend.

Jun.:        Glaub‘ ich nicht.

Selbst, wenn die fliehen wollten...

Keine Aussicht.

Keiner nähm‘ die auf. Wer auch.

Mu.:         Denk‘ an die vielen Bombenopfer.

Alle haben Sorgen.

Jeder denkt doch bloß,

Dass bald der Krieg zu Ende ist.

Jun.:        Die Schüler rufen mir jetzt „Sozi“

Hinterher.

Die wissen gar nicht, was das ist.

Ich mach‘ jetzt lieber einen Umweg.

Mu.:         Ist auch besser.

Jun.:        Heute Nachmittag soll‘n alle aus der Klasse

Hin zum Gut.

Hach „Hohenbuchen“ das ist „Muss“.

Mu.:         Ist „Muss“? Wieso.

Ju.:          Die Kleine kann doch in der Stube essen, oder?

Die hört viel zu viel.

Mu.:         Ach, was.

Nun sag schon, was da los ist.

Jun.:        Alle soll‘n wir hin.

Ein Knecht wird aufgehängt.

Der war beim Bauern. Strafgefangener.

Den haben sie heut‘ Vormittag verurteilt.

Alle sollen zuseh‘n.

Frau‘n mit kleinen Kindern nicht.

Mu.:         Mein Gott!

Jun.:        Der hat mit irgendeiner Frau poussiert.

Ist doch verboten. Streng verboten.

Trotzdem soll es lange gutgegangen sein.

Mu.:         Ich weiß. Das wissen alle.

Hab‘ es auch gehört.

Die Schuld hat nur der Bauer.

Hat ihn angezeigt,

                     Weil er das Mädel haben wollte.

Jun.:        Weiß ich nicht.

Jetzt haben sie ihn abgeurteilt.

Der wird aufgehängt.

 

Die Kleine läuft raus.

 

Mäd.:       Ich geh‘ jetzt spielen.

Mu.:         Ja, ist gut.

Jun.:        Ist Pole. Zwangsarbeiter.

Nicht viel Federlesens.

Alle müssen hin und müssen zuschau'n.

Ich muss bin.

Mu.:         Mein Kind.

Jun.:        Der Bauer hat das nur aus Eifersucht gemacht.

 

Die Mutter erstarrt. Der Junge steht auf und setzt einen Hut auf.

Er ist nun Herr N.

 

Herr N.:    Das ist so ziemlich alles, was ich weiß.

Die Frau wurd‘ auch verurteilt.

Kam nach Ravensbrück.

Die kriegte zwei, drei Jahre.

Als der Krieg zu Ende war,

Hat sich der Bauer aufgehängt.

 

Herr P. tritt auf.

 

Herr N.:    Noch kürzlich hab‘ ich mit Herrn P. gesprochen.

Damals war sein Vater Gruppenleiter

Hier in Sasel.

Wissen Sie, Herr P. die jungen Leute

Wollen alles wissen.

Das vom Lager und vom Bauern,

Die Geschichte mit dem Polen.

Herr P.:    Find‘ ich gut.

Die soll‘n man ruhig kommen.

Hat auch seine guten Seiten,

Dass der Mensch so schnell vergisst.

Ich kann dazu nur sagen, was ich weiß.

Ich kann mich an den Bauern gut erinnern.

Hat sich aufgehängt.

War auch Parteigenosse.

Hat wohl Grund gehabt.

Und was sie da vom Lager sagen,

Also, hier in Sasel hat es nie ein Arbeitslager

Oder etwas Ähnliches gegeben.

Hat doch niemals existiert.

Die Leute täuschen sich,

Das gab es wirklich nicht.

Ich müsste das noch wissen.

 

2.Jugendlicher stürzt auf die Bühne.

 

2.Jug.:     Ich bin auf dem Lande groß geworden.

So wie der spricht,

Redet nur ein Pferd,

Das gut im Gnadenfutter steht.

 

 

3. Akt, 2. Bild. Wir wollen einmal unsre Ruhe haben

 

Küche. Frau Y ist in der Küche. Herr Doktor Y. kommt herein.

 

Frau Y.:    Schon fertig mit der Praxis?

Herr Y.:    Dauert noch. Mach nur ne Pause.

Frau Y.:    Kannst dann aber essen kommen.

                     Bin dann auch soweit.

Herr Y.:    Ist gut. Im Wartesimmer ist noch ein Patient.

                     Hat jemand angerufen?

Frau Y.:    Nein, wer denn?

Herr Y.:    Da war‘n so junge Leute in der Leitung,

Wollten was von Vater wissen,

Aus der Zeit, du weißt schon.

Frau Y.:    Geht das wieder los?

Was denn für junge Leute?

Herr Y.:    Schüler glaub‘ ich.

Steckt doch sicher wieder was dahinter.

Frau Y.:    Und, was wollten die?

Herr Y.:    „Ihr Vater soll im Lager,

Damals, als es dieses Lager gab,

Als Arzt geholfen haben".

Na, ich hab‘ zuerst gedacht,

Die würden meinen, dass er selbst im Lager

So als Lagerarzt und so.

Frau Y.:    Was haben die gedacht?

Herr Y.:    Die meinten wirklich,

Ob er mal behilflich war,

                     Bei einem Unfall oder so geholfen hat.

Ich hab‘ sie erst mal ausgefragt.

Die sind hier vom Gymnasium.

„Wir forschen alles nach.

Wir wollen einfach wissen, wie es war,

Woran man sich erinnern kann. Mehr nicht“.

Frau Y.:    Na, und?

Herr Y.:    Die war‘n sehr nett am Telefon.

"Wir brauchen lhre Hilfe“.

Ob ich ihnen helfen könnte,

Ob ich ihnen bei der Arbeit helfen wollte.

Frau Y.:    So was.

Wer hat das nun wieder angezettelt.

Herr Y.:    So was glaub‘ ich nicht.

Dahinter muss ja keiner stecken.

Frau Y.:    Weiß man nicht.

Was hast du denn gesagt?

Herr Y.:    Ich war so überrascht.

Ich hab‘ gesagt:

Ich kann mich nicht erinnern.

Nein, beim besten Willen nicht.

Ich kann mich überhaupt nicht

Irgendwie besinnen,

Dass mein Vater und ein Lager...

Der war immer freiberuflich tätig.

                     Ein Zusammenhang besteht da wirklich nicht.

Frau Y.:    Und die? Was haben die gesagt?

Herr Y.:    Die sagen,

Vater soll von allem sehr betroffen

Einer Frau berichtet haben.

Davon weiß ich nichts.

Ich hab‘ gesagt, dass ich als Junge

Dauernd im Gelände war.

Das Lager hätt‘ ich kennen müssen.

Vater sprach auch nie darüber.

Frau Y.:    Meinst du, dass das klug war?

Herr Y.:    Sicher werden die so nichts herausbekommen.

                     Das ist doch schon Ewigkeiten her.

Frau Y.:    Mach das doch anders.

                     Ruf‘ sie wieder an. Du sagst...

 

Herr Y. nimmt das Telefon ab und wählt.

Dazwischen zu seiner Frau:

 

Herr Y.:    Mir fällt was ein.

 

Herr Y. bekommt Verbindung.

 

Herr Y.:    Hallo?

Doktor Y. am Apparat.

Habt ihr mich wegen eurer Arbeit angerufen?

                     Die Geschichte mit dem Lager und so weiter?

Also. Wisst ihr, ich hab‘ meine Frau gefragt.

Die Frauen wissen immer etwas mehr.

Ja, Ja.

Die hat das im Familienkreis besprochen.

Viel ist es natürlich nicht.

Die könn‘n sich aber dran erinnern,

Dass da mal ein Unfall war.

Die Frauen aus dem Lager

Mussten schwere Loren schieben.

Eine muss dabei wohl überfahren worden sein.

Es waren ihre Beine, meint man heute.

Also, was nun war im Einzelnen,

Das wusste keiner mehr.

Es war ein schwerer Unfall,

Und es stimmt, dass jemand Hilfe leistete.

Das mag mein Vater schon gewesen sein.

Mir fällt dabei noch etwas andres ein,

Vielleicht hilft das ja weiter,

Früher hat mein Vater oft mit Doktor Z.

Zu tun gehabt.

Ja, ganz genau. Stammt auch aus Sasel.

Doktor Z.

Den fragt mal,

Der kann sicher weiterhelfen.

Gut. Doch, ganz gewiss.

Der Meinung sind wir auch.

Ja, meine Frau und ich

Vertreten auch den Standpunkt,

Dass man Licht ins Dunkel bringen soll.

Na, also dann. Viel Glück.

Nein, nein, bestimmt nicht.

Hilfeleistung hat mein Vater nie verweigert.

Das ist alles.

Nein, wir beide wissen weiter nichts.

Auf Wiederhören.

 

Herr Y. legt auf.

 

Frau. Y.:   Das ist gut. Und denen ist geholfen.

                     Und es stimmt ja beinah‘ alles,

 

Herr Doktor Z. kommt herein. Frau Y, Herr Y. ab.

Es klingelt an der Tür. Doktor Z. macht auf.

1. und 2. Jugendlicher stehen in der Tür.

 

Beide Jug.:   Guten Morgen,

                     Oder besser: Guten Tag. Sind Sie Herr Doktor Z.?

Dr.Z.        Das bin ich.

Aber meine Praxis ist heut‘ zu.

Da müsst ihr morgen wiederkommen.

1.Jug.:     Uns tut gar nichts weh, Herr Doktor.

Alles, was wir möchten, ist nur

Etwas fragen, wenn wir dürfen.

2.Jug.:     Das geht schnell.

Wir kommen von Herrn Doktor Y.

Der meint, dass Sie uns helfen können.

Dr.Z.        Doktor Y.?

Na, meinetwegen kommt herein.

Der hat mich grade angerufen.

Seid ihr von der Oberschule?

Die den Stein errichten wollen, den Gedenkstein?

Und nun geht ihr sammeln, oder?

Gut, ich gebe was dazu.

Was geben denn die anderen?

1.Jug.:     Das stimmt!

2.Jug.:     Stimmt nicht!

Wir kommen doch nicht sammeln!

 

1.Jug. ganz bestimmt.

 

1.Jug.:     Stimmt genau, wir sammeln für den Stein,

Und jede Spende ist willkommen.

Leider haben wir die Sammelliste nicht dabei.

Wir müssen dafür noch mal extra kommen.

Alles muss in eine Liste eingetragen werden.

Wissen Sie? Die haben wir jetzt nicht dabei.

Wir hätten heute nur eine Frage.

 

Kleine Pause.

 

1.Jug.:     Es ist richtig, was Sie sagen,

Eine Frage, die Herrn Doktor Y. betrifft.

Er sagt, dass Sie uns weiterhelfen können.

Wissen Sie, in unsrer Klasse

Läuft grad ein Projekt.

Wir sammeln alles, was das Frauenlager Sasel angeht,

Was man heut‘ noch zu berichten weiß.

 

Herr Doktor Z. lacht erleichtert auf.

 

Dr.Z.:       Da seid ihr ja nun völlig falsch bei mir.

                     Bestimmt.

                     Ich weiß nun wirklich nichts.

2.Jug.:     Herr Doktor Y. soll aber oft mit einem Doktor Z.

Gesprochen haben, oder so.

Wir dachten, das wär‘n Sie.

Ach, jetzt versteh' ich.

Ihr verwechselt mich.

Dr.Z.:       Ihr meint natürlich meinen Vater.

                     Wartet bitte hier.

 

Doktor Z. geht in einen Nebenraum, lässt aber die Tür auf.

Man hört ein Gespräch.

 

Dr.Z.jr.:    Da sind drei junge Leute.

Von der Oberschule. Machen ein Projekt.

Die forschen rum. In alten Sachen.

Woll‘n dich sprechen.

Dr.Z.sen.: Mich?

Dr.Z.jr.:    Ja. Doktor Y. hat dich erwähnt.

Dr.Z.sen.: Der Idiot. Wie kommt der denn dazu.

Kann der sich nicht um seine eignen

Sachen kümmern?

Frau Z.:    Draußen scheint die Sonne.

Schick‘ sie wieder raus.

Die soll‘n spazieren gehen.

Das ist viel gesünder!

Dr.Z.jr.:    Also, was ist jetzt. Willst du sie sprechen?

Frau Z.:    Bloß nicht. Würd‘ ich überhaupt nicht tun.

An deiner Stelle solltest du dich gar nicht zeigen.

Schnüffeln bloß herum.

Die könn‘n ja irgendwann mal wiederkommen.

Schick sie fort.

Wir wollen einmal unsre Ruhe haben!

 

Doktor Z.jr. kommt heraus.

 

Dr.Z.jr.:    Leider geht es heute nicht.

Ihr müsstet meinen Vater selber sprechen.

Der ist aber jetzt nicht zu erreichen.

Kommt doch später noch mal wieder,

In zwei Wochen oder so. Ja?

 

Die Jugendlichen stehen ziemlich ratlos im Zimmer.

Herr Doktor Z.sen. kommt herein.

 

Dr.Z.sen.: Lass man gut sein, Junge.

Dr.Z.jr.:    Also, Vater!

Dr.Z.sen.: Ist ja gut. Ich mach‘ das schon.

Ich mach das schon.

Die jungen Leute haben schließlich

Irgendwo das Recht zu fragen.

Also schießt mal los.

 

Herr Dr.Z.jr. ab.

 

1.Jug.:     Guten Tag.

Wir war‘n bei Doktor Y. Der hat uns...

Dr.Z.sen.: Das ist doch der Sohn, nicht wahr?

Vom Sohn könnt ihr natürlich nichts Genaues hören.

Der hat uns ja grade angerufen.

Ihr macht ein Projekt?

Die ganze Schule?

1.Jug.:     Nur die Klasse.

Dr.Z.sen.: Find ich toll. Ist auch egal.

Der Sohn weiß nichts.

Sein Vater hat bei mir

Das eine oder andre Mal die Tasche abgestellt.

                     Das war so ziemlich alles.

Zwischen uns Kollegen war das üblich.

Mehr war nicht.

Wir haben kaum ein Wort gewechselt.

„Guten Tag“ und „Guten Weg“, mehr nicht.

1.Jug.:     Gab‘s irgendetwas über‘s Lager?

Hat er Ihnen etwas anvertraut?

Was er gesehen hat, zum Beispiel?

Aus dem Lager?

Dr.Z.sen.: Wisst ihr, so vertrauliche Gespräche

Haben niemals existiert.

Ich sag‘ euch, wie es war:

Nicht mehr, als „Guten Tag“ und „Guten Weg“.

Und überhaupt, vom Lager weiß ich nichts, gar nichts.

Ich müsste wirklich lügen,

Wenn ich etwas wissen wollte.

Keine Kenntnis.

Nein, vom Lager hatte ich persönlich

Keine Kenntnis.

2.Jug.:     Doktor Y., der Sohn, sagt aber..

Dr.Z.sen.: Kann der gar nicht wissen, wirklich nicht.

Der irrt sich. Muss sich irren.

Was ich weiß, weiß ich genau,

Und das ist über diese Sache nichts,

Rein gar nichts, tut mir leid.

1.Jug.:     Das ist sehr schade.

Dr.Z.sen.: Na, nun lasst man nicht die Köpfe hängen.

Also, wenn ihr schreibt,

Dürft ihr natürlich niemals

Meinen Namen nennen. Niemals.

Geht doch mal zu…

 

Herr Dr.Z.sen. flüstert der 1.Jug. etwas ins Ohr.

 

Dr.Z.sen.: Ja, da geht mal hin.

                    Und sprecht mit...

 

Er flüstert wieder.

 

Dr.Z.sen.: Das weiß ich genau.

Der stand dem alten Y. sehr nahe.

Sehr, sehr nahe.

Da versucht es mal.

Mich lasst ihr aber raus.

Erwähnt mich nicht und meinen Namen nicht!

Ihr dürft um Gottes Willen

Meinen Namen nicht erwähnen.

Das versprecht ihr mir?!

 

 

3. Akt, 3. Bild. Schiff der Hoffnung?

 

Die Küche. Mitten in der Küche steht ein Schwarzhemd mit

einem Rutenbüschel im Arm. Das stellt er mit der

Axt in eine große Bodenvase.

 

Schw.:      Das kann in die Vase.

 

Er nimmt sein Koppel ab. Er haucht darauf,

poliert es und liest, was auf dem Schloss steht.

 

Schw.:      Gott mit uns!

Mit uns ist Gott.

Gott ist mit uns,

Weil er uns unsertwegen schuf.

 

Durch die Rückwand der Küche fährt nun ein Segelschiff,

als Symbol der Hoffnung. Darauf steht ein Offizier der

Besatzungsmacht.

 Schwarzhemd und Offizier sehen sich anscheinend nicht.

 

Off.:         Wer will uns Lügen strafen.

Wer will uns, die Retter, Lügen strafen.

Wer behauptet denn,

Dass wir, die Rettungsmacht, zu wenig wussten?

Schw.:      Wir entstanden aus uns selbst.

Wir sollen und wir wollen Rassen trennen.

Juden, Polen, Russen und Zigeuner

Sind die Spreu im Weizen.

Off.:         Im Prozess war alles offen.

Jeder konnte alles sagen.

                     Über hundert Zeugen haben wir befragt.

Die stammten alle aus dem Lager.

Konnten die das nicht mehr wissen?

                     Gab es etwas Schreckliches,

Das die ganz einfach nicht mehr wissen konnten?

                     Gibt es eine Norm des Schreckens?

 

Pause.

 

Off.:         Wir sind die Besatzungsmacht

Und haben die Befreiung ausgerufen

Und befreit.

Wir fragen die Befreiten nach der Wahrheit,

Dass sie andere damit befreien,

Oder anderen die Schuld zuweisen.

Schw.:      Die und alle Sozis

Und die Kommunisten werden wir vernichten.

Ihre Arbeitskraft soll nützen.

Uns! Uns soll sie nützen.

Wenn es nicht mehr geht,

Soll‘n sie sich selbst nicht stützen können!

Wir zertreten sie.

Off.:         Wir sind im Schiff der Hoffnung angekommen.

Jede Einzelheit ist von uns

Aufgenommen worden.

Unser Arm reicht bis nach Sasel,

Außenstelle Neuengamme.

Unsre Fragen geh‘n an hundert Insassinnen.

Hundert Frauen, die hier waren, fragen wir:

Wer starb in diesem Arbeitslager

Und warum, woran?

Schw.:      Wir sind das Herrenvolk.

Das ist der Grund. Wir Arier sind der Grund.

Die anderen sind minder zu bewerten.

Wir bewerten. Wir sind Maßstab.

Nur die Juden haben Schuld am Krieg,

An der Zerstörung durch die Bomben.

Diesen Schaden haben sie uns wieder gut zu machen.

Off.:         Wir, die Offiziere, haben alles aufgenommen.

Wir, die Offiziere führen Protokoll.

Wir Offiziere fassen jetzt zusammen,

Alles, was man uns berichtet hat.

Das ist, obwohl es schlimm ist,

Nicht sehr viel.

Schw.:      Wir sind am Leben, um zu siegen.

Siegen, selbst im Untergang,

         Denn „Gott mit uns“

Mit uns ist Gott.

Das Volk versteht das nicht.

                     Das Volk muss man verstehen lehren,

Bis es schließlich so versteht,

Wie wir verstehen.

         Volk muss man Vertrauen und Gehorsam zeigen,

Auch im Untergang.

Vertrauen heißt:

Vertrauen ins System,

Und das beherrschen wir.

Wir sind fürs Volk, Vertrauen und System.

Das Volk versteht das nicht.

Dafür verstehen wir es.

Wir verstehen auch das Volk und seine Angst

Und seine Abgestumpftheit.

 

Der Offizier liest jetzt aus seinem Protokoll.

 

Off.:         Dieses Lager existierte.. äh,…äh...

In diesem Lager...

In den Monaten des Existenz des Lagers…

 

Frau I. kommt herein mit der Totenliste aus Bergstedt in der Hand.

 

Off.:         Starben drei Personen.

Frau I.:     Eine Liste!

Sehen Sie, ich hab‘ noch eine Liste.

Die lag unter einem Stein in Bergstedt.

Eine Totenliste! Das ist eine Totenliste!

Hören Sie, die darf man nicht vergessen.

Schw.:      Gott mit uns!

Mit uns ist Gott.

Gott sieht uns vor

Und sieht vor uns

Und ist uns Vorsehung.

 

Frau I. irrt hin und her.

 

Off.:         Nach diesen Protokoll

Starb die Insassin, Frau Helene D.

Es wurde ausgesagt,

Dass die Bewacherinnen L. und U.

                     Die Frau gequält, misshandelt haben.

Später haben sie sie aufs „Revier“ gebracht.

Herr Doktor K. ist dort als Sanitäter

Ausgewiesen.

Der kam nur routinemäßig über Sasel.

         Mehr ist nicht bekannt.

Frau I.:     Wir wissen heute mehr, viel mehr!

Die Liste, hier, die Liste!

Off.:         Demnach soll sie Morphium

Und Luminal bekommen haben.

Damit spritzte man die Frau vielleicht zu Tode.

                     Nach zehn Tagen starb sie.

Frau I.:     Meine Liste!

Ich komm‘ spät damit, ich weiß!

Off.:         Zum zweiten starb Adele E., die Polin.

Man schlug sie brutal zusammen.

Zwei der Wache sollen es gewesen sein.

Danach erlag sie ihren inneren Verletzungen.

Sie starb genauso wie Helene D. auf dem „Revier".

Zum Dritten und zum Letzten wissen wir

Vom Tod der Insassin Frau Sledzik.

Die litt unter TBC und starb auf dem Transport

Von hier nach Bergen-Belsen,

Wohin man sie „evakuierte“.

Frau I.:     Das sind längst nicht alle.

Meine Liste! Meine Liste!

Die ist neu, nein alt!

Die ist von jetzt, nein eben nicht.

Die ist noch aus der Zeit.

Die müssen Sie noch lesen.

Die gehört dazu.

Das sind noch längst nicht alle.

Off.:         Damit ist die Untersuchung abgeschlossen.

 

Schwarzhemd nimmt sein Rutenbüschel.

Schwarzhemd und Offizier mit dem Segelschiff ab.

 

Frau I.:     Der nimmt sie nicht.

Der gibt sich so zufrieden.

Und der andre ist mit sich zufrieden.

                     Gott im Himmel.

Diese Liste ist doch wahr.

Die reine Wahrheit steht auf ihr.

Wie soll er sie auch nehmen können.

Int‘ressiert nicht mehr. Vorbei.

Ich habe fünfunddreißig

Namen, Nummern, Unbekannte...

Alle tot.

Man kann kein Protokoll zurück

In die Verhandlung reichen.

Ist zu spät, vorbei!

Das musst du einseh‘n.

Alles abgeschlossen.

         Zehnmal so viel Tote als der sagt, noch mehr.

Ein Dokument, nur noch ein Dokument?

Nicht einmal gut genug für einen Nachtrag

In das Protokoll?

Vorbei? Für alle Zeiten?

 

 

3. Akt, 4. Bild. Ein langer Schlaf

 

In der Küche. Herr X kommt herein und geht zum Telefon.

Er wählt und wartet.

 

Herr X.:    Ja, hier X. Verwaltung Friedhof Bergstedt.

Bergstedt, Ja.

Verbinden Sie mich bitte mit dem Außenlager Sasel.

Richtig, über Neuengamme.

Sasel bitte,

Ja, mit jemandem, der dort das „Sagen“ hat.

Ich warte, danke.

 

Kleine Pause.

 

Herr X.:    Hören Sie, hier X vom Friedhof Bergstedt.

Heute ist der 21. April.

Sie haben Tote hergefahren. Ohne jeden Zettel.

Ohne alles.

Das soll‘n sicher wieder

                     Wohlfahrtserdbestattungen…

Das weiß ich nicht.

Das dürfen wir auch nicht.

Wir brauchen die Papiere. Alles, was dazu gehört.

Für jeden Toten.

Sind nur Frauen hab‘ ich festgestellt.

Und noch eins. Warten Sie.

Wie soll ich die begraben?

Und ich weiß nicht wo.

Trotzdem, auch wenn Sie die Papiere schicken.

Nein, so geht das wirklich nicht.

Am Wagen? Eine Liste?

Ja, die hing daran.

Das soll doch wohl nicht alles sein.

Die sind noch auf dem Wagen.

Ja, gestapelt.

Weiter nichts.

Sie haben keine Särge mitgeschickt.

Und hören Sie.

Wir brauchen Leute, die die Gruben graben.

Also, ich bin ganz allein. Ich kann das nicht.

Ich kann da überhaupt nichts machen.

So? Das geht? Jetzt gleich?

Dann kommen Frauen rüber, die das machen?

Gut. Wenn die das machen.

Nein. Woher soll ich wohl Särge nehmen.

Aus der Gegend?

Hier gibt‘s höchstens Stroh vom Bauern,

         Weiter nichts.

In Ordnung. Nehm‘ ich Stroh.

Ist immer noch ein wenig besser,

Als die nackte Erde.

Ja, ich frag‘ die Bauern.

Kenne alle. Ja, die machen das.

 

Hinter Herrn X. geht die Tür auf. Es erscheinen drei Frauen.

Ganz normal gekleidet, mit Schürzen. Auch die Haare sind gepflegt.

 

Herr X.:    Moment, ich leg‘ gleich auf.

1.Frau.:    Wir sind von Lager,

Sind Sie nicht Herr X.?

Wir soll‘n uns melden.

Herr X.:    lhre Frauen sind schon hier.

                     Das ging ja schnell, sehr schnell.

1.Frau.:    Hier, die Bescheinigung vom Lagerarzt.

                     Die brauchen Sie für die Verstorbenen.

Herr X.:    Ist gut, wir fangen an.

                     Auf Wiederhören.

 

Herr X. zu den Frauen:

 

Herr X.:    Sie woll‘n helfen?

1.Frau.:    Ja, warum denn nicht?

Herr X.:    Ich dachte, man würd‘ Frauen aus dem Lager schicken.

                     Wissen Sie,

                     Da müssen Gräber ausgehoben werden.

2.Fr.:        Wissen wir.

                     Wir sind auch aus dem Lager.

Herr X.:    So? Sie sind doch niemals aus dem Lager.

                     Gut frisiert und so.

 

Er riecht an ihnen

 

Herr X.:    Und Seife habt ihr auch, verdammt noch mal.

1.Fr.:        Wir haben sie auch mitgebracht.

                     Wir müssen uns doch waschen können, oder?

Herr X.:    Und die Kleider und die Schürzen...

                     Alles proper, alles proper, proper.

 

Er klopft einer auf den Hintern.

 

Herr X.:    Proper, proper..

                     Mensch, ich müsste euer Lagervize sein.

 

Die Frauen lachen.

 

Herr X.:    Na, soll mir auch egal sein.

1.Fr.:        Und? Wo steht denn das Klavier.

 

Herr X.:    Ich komm mit raus.

Ich zeig‘ euch, wo ihr graben könnt.

In den Klamotten…

Viel zu schade..

Ach, wer hat denn die Bescheinigung?

Die muss ich erst mal lesen.

 

Nimmt den Zettel.

 

Herr X.:    Wieder alles Nummern.

Gibt‘s denn keine Namen?

Hab‘n die keine Namen?

Sind die alle namenlos?

Was ist denn das für‘n Quatsch!

Der will mich wohl verscheißern?!

Was ist das...

 

Er greift zum Telefon und wählt.

 

Herr X.:    Hier X noch mal.

Den Lagerarzt.

Dann wart‘ ich eben!

 

1.Frau drückt die Hand ganz sachte auf die Gabel.

 

1.Fr.:        Der ist jetzt nicht da.

                     Er hat uns das erklärt.

Herr X.:    Was hat er euch erklärt! Was denn!

1.Fr.:        Den Grund, warum, die tot sind.

                     Desweg‘n rufen Sie doch an.

Herr X.:    Das hat er euch erklärt?

1.Fr.:        Wir war‘n dabei.

Sie werden‘s selber seh’n:

Die toten Frau‘n sind völlig unverletzt.

Herr X.:    Und tot.

1.Fr.:        Der Grund ist innerlich.

                     Wir war‘n dabei.

                     Wir sind schon länger in dem Lager,

Aber das hab‘n wir noch nicht erlebt.

Vor zwei, drei Tagen sind die angekommen,

                     Wurden überführt.

Die haben uns erzählt,

Wie schlecht das Essen während ihrer

Überführung war,

2.Fr.:        Die wurden praktisch nicht ernährt.

1.Fr.:        Die sagten: sehr, sehr dürftig.

                     Als sie angekommen sind..

2.Fr.:        Gleich wie die Tiere auf das Essen..

1.Fr.:        Wie die Tiere.

Ich hab‘ das noch nie geseh‘n,

So sind die über‘s Essen hergefallen.

Alle Frauen:   Ja, wir haben zugesehen: Wie die Tiere.

Mit den Händen haben sie sich vollgestopft.

Nur immer rein, nur immer rein.

Mit beiden Händen!

                     Soviel Gier hab‘ ich noch nie erlebt.

Die hörten gar nicht wieder auf zu fressen.

Wie im Fieber waren die.

Die hab‘n sich einfach überfressen

Alle Frauen:   Überfressen.

                     Keine konnt‘ es glauben.

Denen ist der Magen überspannt.

Das hat der nicht vertragen.

Überspannt, sag‘ ich,

Und dann geplatzt. Bei allen.

So hat‘s uns der Lagerarzt erklärt.

Wir hätten uns das nicht erklären können.

Herr X.:    Kann doch gar nicht sein.

                     Das gibt‘s doch nicht.

1.Fr.:        So steht‘s doch auch auf der Bescheinigung,

                     Nicht wahr?

Herr X.:    Ich kann‘s nicht glauben.

Also, dass es sowas geben soll.

Ich bin kein Arzt.

Das sag‘ ich euch:

Ich seh‘ mir jede von den Toten einzeln an.

1.Fr.:        Das sollten Sie. Auf jeden Fall.

Herr X.:    Nun kommt.

Ich zeig‘ euch,

Wo ihr sie begraben könnt.

                     Schön tief!

Und denkt ans Stroh.

Das bringt nachher ein Bauer.

Den ruf‘ ich noch an.

 

Alle ab. In selben Augenblick kommt ein alter Mann herein.

Mit ihm die drei Jugendlichen. Es ist der Propst H.P. (Pr.)

Er setzt sich auf einen Stuhl.

 

Pr.:           Ich bin jetzt über achtzig.

Wisst ihr, was das heißt?

Natürlich nicht. Natürlich nicht.

1.Jug.:     Wir würden gern ein Tonband laufen lassen,

Stört Sie das?

Pr.:           Nein, gar nicht. Läuft es schon?

2.Jug.:     Ja, alles drauf.

Pr.:           Was ich gesagt hab‘?

2.Jug.:     Ja.

Pr.:           Dann lass‘ mal hören.

Spul mal ab.

Ich möchte meine Stimme hören,

2.Jug.:     Gut. Das ist zwar noch nicht viel.

Pr.:           Das macht doch nichts.

Tonband: Ich bin jetzt über achtzig.

Wisst ihr, was das heißt?

Natürlich nicht. Natürlich nicht.

         Wir würden gern ein Tonband laufen lassen,

                     Stört Sie das?

         Nein, gar nicht. Läuft es schon?

         Ja, alles drauf.

2.Jug.:     So, jetzt geht‘s weiter.

 

Propst zum Tonband.

 

Pr.:           Ich bin der Propst H.P.

Ich bin schon über achtzig.

Alles drauf?

 

2.Jug.:     Ja, alles drauf.

Das geht ganz automatisch.

Pr.:           Meine Stimme klingt ganz gut.

1.Jug.:     Doch. Für Ihr Alter ist das sehr, sehr gut.

2.Jug.:     Wie woll‘n wir‘s halten.

Woll‘n Sie uns erzählen,

Oder dürfen, soll‘n wir fragen?

Pr.:           Also, meine Lieben, liebe Jugendliche.

Meine große Achtung gilt den Jugendlichen,

Die sich den Besitz - Erinnerung -

Nicht rauben lassen wollen.

Meine große Achtung.

Kürzlich hörte ich jedoch auch einen and‘ren Satz:

Erinnerung an diese Dinge

Ist der Tod für diese Dinge,

Weil das Wissen um sie leben muss.

Und das ist mehr, ist viel, viel mehr,

         Als sich daran erinnern.

                     Leben muss das Wissen um die Dinge.

3.Jug.:     Das ist gut.

Pr.:           Ihr dürft mich nun nicht dauernd unterbrechen.

Also.

Daher bin ich davon überzeugt,

Dass das Bezeugen, wie es hier

 

Zum Tonband..

 

Pr.:           Wie es hier geschieht,

Mehr ist, als alle Fragen.

So kann man die Jugendlichen

In die Welt von damals führen.

Unter diesen fürchterlichen Leuten

Starb man damals schnell.

Na, ich bin nun schon über achtzig Jahre alt,

Was will man mehr.

Gott hat mich nicht vergessen.

Also. Ich bin alt.

Gewiss, ich muss mich jener Zeiten schämen.

Ja, ich muss mich schämen.

Und ich schäme mich der Zeiten,

         Meine Zeit war auch dabei.

                     Ich bitte Gott, ich bitte jetzt mein Gott,

                     Bewahre mich davor,

         Und ich, ich will mich selber hüten,

Nachträglich noch am Geschehen

Irgendwelche Korrekturen vorzunehmen,

Um vielleicht das Bild ein wenig

Aufzuhellen.

Gott bewahre mich davor.

Ich habe bis zum 21. April des Jahres 1945

                     Von Kommando Sasel nichts gewusst.

3.Jug.:     Das kann doch gar nicht sein.

1.Jug.:     Nun unterbrich ihn nicht.

Wenn er das sagt,

Dann wird‘s wohl stimmen.

 

3.Jug. zur Seite.

 

3.Ju.:       Achtzig Jahre. Nur nichts korrigieren.

Pr.:           Hängt vielleicht damit zusammen,

Dass ich hauptamtlich in Volksdorf war,

Und die Gemeinden, Sasel, Bergstedt

Kannte ich nicht so genau.

Das hängt bestimmt damit zusammen.

3.Ju.:       Sicher.

Pr.:           Daher kann ich über all die Menschen

Die ganz nah am Lager lebten,

Keine Auskunft geben.

Was ich meine, ist zum Beispiel,

Wie sie sich den Insassinnen gegenüber

Ausgenommen haben, wie sie sich verhalten haben.

Ich sprech‘ nur von mir

Und was ich weiß.

1.Jug.:     Sie hatten damals die Verwaltung inne,

                     Stimmt das?

Pr.:           Ja, das stimmt.

Der Friedhof Bergstedt war in der Verwaltung

Der Gemeinden Bergstedt, Ohlstedt,

Volksdorf, Poppenbüttel, die mir unterstand.

Es ist ganz richtig, dass ich damals die

Verwaltung dieses Friedhofs hatte.

Nun zurück zum 21. April.

Ein Wagen fuhr an diesem Tag

Ganz ohne Vorankündigung und

Ohne jede Voranmeldung auf den Friedhof.

Darauf lagen Tote.

So, als Ladung auf der Fläche. Tote Frauen.

2.Jug.:     Wissen Sie denn noch, wie viele?

Pr.:           Ja. Es waren zwölf.

Das heißt, das weiß ich nicht.

Ich weiß es jetzt nicht mehr.

Das hab‘ ich eurem Brief entnommen.

Ja, es waren zwölf. Es waren Jüdinnen.

Die Anzahl ist ja im Register nachzuprüfen.

Ins Register werden alle eingetragen, wisst ihr?

Na, das könnt ihr noch nicht wissen.

Mir fiel auf,

Dass diese Wagenladung

Und die Weise ihrer Überstellung

Größte Unbarmherzigkeit, Unmenschlichkeit,

Brutalität, ganz deutlich zeigte.

Ja, ich war schockiert.

Die Leichen waren nackt, gestapelt.

         Wie man Vieh anschleppt

       Das irgendwo verendet ist.

       Mit diesen Toten kamen wenigsten

Noch ein paar Namen.

Später hat man nicht mal das gemacht.

Die danach kamen,

Hatten nur noch Häftlingsnummern.

1.Jug.:     Und was haben Sie gemacht?

Pr.:           Ja, was hab‘ ich gemacht.

Es hieß, sie seien auf dem Treck,

Auf dem Transport gestorben,

Und man gab auch Gründe an.

Erschöpfung.

Überanstrengt seien sie gewesen.

 

Kleine Pause,

 

Pr.:           Nicht vergessen:

                     Bis zum 21. April wusst‘ ich von Sasel nichts.

So hielten wir die Gründe

Wenigstens für möglich.

Überall sprach man von der Verlegung

Irgendeines Lagers aus dem Kriegsgebiet.

Das kam natürlich auch in Frage.

Unsre Zweifel an der Wahrheit

Waren nur von kurzer Dauer.

Was wir später sahen, nahm uns jede Illusion.

Die neuen Leichenüberführungen,

Die danach kamen...

Die belehrten uns schnell eines anderen.

3.Jug.:     Was war denn nun mit denen auf dem Wagen.

War‘n die umgebracht,

Erschossen worden, oder was?

Pr.:           Du fragst zu Recht.

Wir haben uns das auch gefragt.

Wir waren aber keine Mediziner,

Und wir konnten das nicht klären.

Offensichtlich war jedoch

Unmenschlichkeit am Werk.

1.Jug.:     Und dann? Was wurde dann gemacht?

3.Jug.:     Die sind noch auf dem Wagen.

Pr.:           Kinder, seht mich an.

Ich bin ein alter Mann

Und heute schäm‘ ich mich.

Was war zu tun?

Mich überfiel beim Anblick dieser Menschen

Eine ungeheure Traurigkeit.

Ja, Traurigkeit und Trauer.

Völlig hilflos stand ich vor den Toten.

Ich war derartig gelähmt,

Das ist mir leider oft in meinem Leben so gegangen,

Dass ich gar nichts unternehmen konnte.

So bin ich als Mensch.

Ein Mensch, mehr nicht.

Ganz hilflos und ganz ratlos.

Was blieb mir zu tun.

Vor Gott sind wir doch alle

Schwestern, Brüder.

Was uns einig, ist die große Brüderlichkeit.

Die entsteht am schnellsten in der Not.

Ich wollte brüderlich zu meinen Schwestern sein.

Sie sollten nicht in einem

Massengrab verschwinden

Und nicht abseits ruhen.

2.Jug.:     Wie denn das.

                Was konnte man denn tun für sie.

 

Propst ganz schlau..

 

Pr.:           Wir betteten sie zwischen uns‘ren Reih‘n

In Einzelgräbern,

So, dass Einheimische und Gefang‘ne

Abwechselnd begraben waren.

 

Propst ganz schlaff.

 

Pr.:           Das war leider falsch.

Ein großer Fehler. Glaubt mir.

Ganz bestimmte Kreise leisteten mir plötzlich

Ungeheuren Widerstand.

Sie protestierten, als sie das erfuhren!

„Unsre Toten neben denen?

Neben, Jüdinnen? Niemals! Niemals“!

So schrien die rum und schlimmer.

3.Jug.:     Und, was nun?

 

Propst verfällt in Schläfrigkeit.

 

Pr.:           Ach, Kinder schaltet jetzt

Den Kasten bitte ab.

Ich bin sehr alt.

Ihr wisst doch, über achtzig.

Über achtzig.

Weiter weiß ich nichts.

Kann nichts mehr sagen.

Mein Erinnerungsvermögen hat sehr abgenommen.

 

Pr. noch einmal zum Tonband:

 

Pr.:           Schalt das Ding doch noch mal an:

Den Jugendlichen...

Meine Grüße gelten nun der Jugend,

Dass sie wissend werden möge.

 

Der Propst schläft ein.

 

 

3. Akt, 5. Bild. Die Obrigkeit hat gratuliert

 

Küche. Die drei Jugendlichen zum Publikum.

 

1.Jug.:     Nur allein in Hamburg gab es 13 oder 14

Außenstellen.

Der Bestand belief sich auf 10.000 Menschen.

Den erneuerte man unentwegt.

2.Jug.:     Da drüben, Ecke Aalkrautweg und...

Ach, ich weiß nicht, wie die Straße heißt,

In Sasel,

Haben wir den Stein zum Schluss errichtet.

3.Jug.:     Wir, die Oberschüler und die Schule.

Von der Obrigkeit natürlich keine Spur.

1.Jug.:     Die fand das aber gut.

3.Jug.:     Wie fein.

1.Jug.:     Die hat auch gratuliert.

3.Jug.:     Fein, fein.

Der Stein ist Mahnung.

Mahnung ist der Stein,

Und Mahnung ist Gedenken.

Doch Gedenken wird Versteinerung,

Wenn es nicht lebt.

1.Jug.:     Und Leben wird Versteinerung,

Verweigert es Gedenken.

2.Jug.:     „Die Würde des Menschen ist unantastbar“,

Heißt es.